Cave Diclofenac!

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

1        wie Sie alle wissen, gehören nichtsteroidale Schmerz- und Entzündungshemmer (NSAR) zu den in der hausärztlichen Versorgung wichtigen Arzneisubstanzen. Unter dem Begriff NSAR werden zusammengefasst

•    die sog. traditionellen NSAR (t-NSAR, z.B. Diclofenac, Ibuprofen, Naproxen), die überwiegend COX-1 hemmen
•    Coxibe [z.B.  Celecoxib, Etoricoxib – Rofecoxib ist seit 2004 verboten], die selektiv bzw. vorzugsweise COX-2 hemmen.

Viele Krankenkassen messen die Qualität des Einsatzes von NSAR u.a. an den Leitsubstanzen Diclofenac und Ibuprofen, die seit längerer Zeit auch als OTC-Präparate für jedermann verfügbar sind. Deren Freiverkäuflichkeit könnte dem durchschnittlichen Konsumenten den Eindruck vermitteln, dass es sich hier um weitgehend unbedenkliche Arzneimittel handelt.

Dass dieser Eindruck täuscht, ist nicht erst seit heute bekannt. NSAR haben ein z.T. erhebliches gastrointestinales und kardiovaskuläres Schädigungspotential und können u.a. die Nierenfunktion und die kardiale Pumpfunktion mindern. Durch große Studien ist das Spektrum der unerwünschten Wirkungen von NSAR inzwischen sehr viel besser bekannt als noch vor wenigen Jahren. Die Ergebnisse neuer Untersuchungen haben nun das Bild der verordnungsmäßig unangefochtenen Spitzenstellung von Diclofenac erheblich ins Wanken gebracht. Auch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat jetzt entsprechende Warnungen für Patienten formuliert (s. Anhang).

Vor wenigen Tagen hat die britische Fachzeitschrift Lancet eine Publikation online gestellt (Anlage Lancet 2013), in der überwiegend individuelle Patientendaten - also nicht nur die zusammengefassten Gruppenergebnisse - aus randomisierten Studien (RCTs) in mehrere Metaanalysen einflossen. Es handelt sich um die eindrucksvolle Zahl von

•    280 RCTs, die NSAR mit Plazebo verglichen (124.513 Teilnehmer) und
•    474 RCTs, die verschiedene NSAR miteinander verglichen (229.296 Teilnehmer)

Die Daten bezogen sich im Wesentlichen auf die t-NSAR Diclofenac, Ibuprofen und Naproxen sowie auf die Coxibe (Celecoxib, Rofecoxib [ältere Studien, da das Mittel seit sieben Jahren weltweit vom Markt ist], Etoricoxib und Lumiracoxib). Warum Coxibe hier nur als Gruppe ausgewertet wurden, lassen die Oxforder Autoren letztlich ungeklärt.

Die sich z.T. überschneidenden Endpunkte der Analysen betrafen

•    Schwere Gefäßerkrankungen (nichttödliche Herzinfarkte, nichttödliche Schlaganfälle, vaskuläre Todesfälle)
•    Schwere Koronarereignisse (nichttödliche Herzinfarkte oder koronare Todesfälle)
•    Schlaganfälle insgesamt
•    Gesamtsterblichkeit
•    Krankenhauspflichtige Herzinsuffizienz und
•    Schwere Komplikationen des oberen Gastrointestinaltrakts (Perforation, Obstruktion oder Blutung)

Vor den Ergebnissen noch einige Details zu den Teilnehmern. Zwei Drittel waren Frauen; das Durchschnittsalter betrug 61 Jahre; 13% waren Raucher; der mittlere BMI lag bei 29; der RR bei 132/79 mmHg. 20% nahmen ASS ein, 17% einen PPI. Die mittleren Dosen lagen jeweils am oberen Ende der Empfehlungen und betrugen für Diclofenac 150mg/d, für Ibuprofen 2400mg/d und für Naproxen 1000mg/d. Für Coxibe waren (wegen der Gruppenauswertung) keine Daten für die entsprechenden Tagesdosen verfügbar.

Ohne auf methodische Details der umfangreichen Arbeit einzugehen, will ich hier nur die wichtigsten Ergebnisse darstellen (die Risiken sind als sog. rate ratios mit den entsprechenden 95% Konfidenzintervallen angegeben).

•    Alle NSAR erhöhen das Risiko gastrointestinaler Komplikationen (Coxibe 1.81 [1.17 – 2.81]; Diclofenac 1.89 [1.16 – 3.09]; Ibuprofen 3.97 [2.22 – 7.10]; Naproxen 4.22 [2.71 – 6.56].
•    Alle NSAR erhöhen das Risiko einer krankenhauspflichtigen Herzinsuffizienz (Coxibe 2.28 [1.62-3.20]; Diclofenac 1.85 [1.17-2.94]; Ibuprofen 2.49 [1.19-5.20]; Naproxen 1.87 [1.10-3.16]
•    Coxibe und Diclofenac, nicht aber Ibuprofen und Naproxen erhöhen das Risiko schwerer Gefäßerkrankungen (Coxibe 1.37 [1•14–1•66]; Diclofenac 1•41 [1•12–1•78]; Ibuprofen 1•44 [0•89–2•33]; Naproxen 0.93 [0.69–1.27]).
•    Coxibe, Diclofenac und Ibuprofen, nicht aber Naproxen erhöhen das Risiko schwerer Koronarereignisse (Coxibe 1•76 [1•31–2•37]; Diclofenac 1•70 [1•19–2•41]; Ibuprofen 2•22 [1•10–4•48]; Naproxen 0.84 [0.52-1.35]).
•    Kein NSAR erhöht das Risiko eines Schlaganfalls
•    Nur Coxibe, nicht aber Diclofenac, Ibuprofen noch Naproxen erhöhen die Gesamtmortalität (Coxibe 1.22 [1.04-1.44]
•    Nach Angaben der Autoren war das vaskuläre Risiko der Einzelsubstanzen in der Gruppe der Coxibe vergleichbar (was im Klartext heißt, dass die dem Celecoxib zugeschriebene, niedrigere Rate an unerwünschten kardiovaskulären Wirkungen zumindest in der vorliegenden Arbeit nicht gestützt wird. Allerdings fehlen Zahlen zur Tagesdosis!)

Nach diesen Daten ist evident, dass es keine „harmlosen“ oder sicheren NSAR gibt, denn alle Substanzen erhöhen das Risiko gastrointestinaler Komplikationen oder einer krankenhauspflichtigen Herzinsuffizienz (und alle können den Blutdruck erhöhen sowie die Nierenfunktion verschlechtern). Coxibe erhöhen als Gruppe auch die Gesamtsterblichkeit.

Naproxen scheint hingegen bezüglich des kardiovaskulären Risikos eine Ausnahmestellung einzunehmen (was mit seiner Thrombozytenaggregations-hemmenden Eigenschaft zu tun hat). Leider wird es in Deutschland rund 25 Mal seltener verschrieben als Diclofenac oder Ibuprofen (hier sind die OTC-Zahlen noch gar nicht berücksichtigt).

Dass Ibuprofen zwar das Risiko schwerer Koronarereignisse, nicht aber das schwerer Gefäßerkrankungen erhöhte, bleibt unerklärt (große Metaanalysen von Beobachtungsstudien attestieren der niedrigdosierten Substanz ein geringes kardiovaskuläres Risiko, das gleich nach Naproxen kommt). Dieser mögliche Widerspruch könnte – spekulativ - mit der schon seit mehr als 10 Jahren bekannten Interaktion zwischen Ibuprofen und niedrigdosiertem ASS erklärt werden (immerhin 20% aller Teilnehmer nahmen ASS ein). Wird Ibuprofen vor ASS eingenommen, resultiert eine deutliche Verminderung der Thrombozytenaggregation. Das trifft möglicherweise auch für Naproxen zu, nicht aber für andere NSAR. „Möglicherweise“ deshalb, weil die wenigen und sehr kleinen Studien dazu widersprüchlich sind. Die Konsequenzen aus dieser Situation für die hausärztliche Praxis habe ich weiter unten zusammengefasst.

Nun ist das gastrointestinale Schädigungspotential von NSAR seit langem bekannt. Relativ „neu“ sind die unerwünschten Wirkungen im kardiovaskulären Bereich (obschon die ersten Studien dazu auch schon vor fast zehn Jahren publiziert wurden). In Bezug auf diese Nebenwirkungen ist ein „Gegenmittel“ bis heute nicht bekannt. Bei der Schädigung der Magenschleimhaut hingegen kann man (bei bestimmten Indikationen) immerhin versuchen, durch die Gabe von Protonenpumpenhemmern gegenzusteuern.

Das lässt die Frage aufkommen, wer vor Arzneimitteln mit Nebenwirkungen im Herz-/Kreislaufbereich geschützt werden muss? Das sind zunächst Patienten mit bekannten Herz-Kreislauferkrankungen (z.B. Herzinsuffizienz, Kardiomyopathien diverser Ätiologie, KHK, Schlaganfall/TIA, PaVK). Erhöhte Vorsicht ist aber auch bei Personen mit kardiovaskulären Risikofaktoren (Hypertonie, Diabetes mellitus, Raucher, familiäre Vorgeschichte) ebenso wie allen älteren Patienten angebracht.

Für die tägliche Praxis würde ich folgende Quintessenz formulieren (die sich nicht nur aus der aktuellen Publikation, sondern auch aus vielen Veröffentlichungen der letzten zwei Jahre speist):

•    Trotz der Evidenz, dass es keine „harmlosen“ oder sicheren NSAR gibt, sind - gemessen an den Verordnungs- und Verbrauchsdaten - die Absolutzahlen gering. Eine „Verbannung“ der NSAR aus dem hausärztlichen Instrumentarium erscheint trotz aller Vorsicht nicht gerechtfertigt.
•    Beim Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden muss man auch berücksichtigen (was zunehmend in hausärztlichen Diskussionsforen thematisiert wird), dass auch alle anderen verfügbaren Analgetika und Entzündungshemmer keineswegs unbedenklich sind. Eine Diskussion über den Stellenwert alternativer Substanzen kann schon aus Platzgründen nicht an dieser Stelle erfolgen.
•    Bei Patienten mit Herz-/Kreislauferkrankungen oder Risikofaktoren sollten weder Diclofenac noch Coxibe, sondern Naproxen eingesetzt werden. Da viele dieser Patienten niedrigdosiertes ASS einnehmen, bietet sich für die tägliche Praxis ASS als entsprechender Risikomarker an.
•    NSAR bei Patienten jeden Alters so kurz und so niedrig dosieren wie möglich. Bei Schwangeren sind NSAR kontraindiziert!
•    Bei GI-Beschwerden/Blutung bzw. kardiovaskulärem Ereignis müssen NSAR sofort abgesetzt werden (einen gastrointestinalen Risikoscore und Indikationen für eine PPI-Prophylaxe sehen Sie in der grafischen Darstellung am Ende des Textes)
•    Bei älteren Patienten sollte - wenn es irgendwie geht – keine chronische Therapie erfolgen. Vor jeder chronischen Therapie sollte eine Testung auf Helicobacter pylori und ggf. eine anschließende Eradikation erfolgen.
•    Wenn ein Patient niedrigdosiertes ASS und Naproxen oder Ibuprofen zusammen verordnet bekommt, sollte immer zuerst ASS und mit zweistündigem Abstand das NSAR gegeben werden. [Cave: Da etliche t-NSAR frei verkäuflich sind, sollten wir unsere Patienten vermehrt nach Einnahme von OTC-Präparaten fragen!].
•    Neben initialen Ausgangswerten sollte nach Beginn der Behandlung eine regelmäßige Kontrolle von Blutdruck, Nierenfunktion und Körpergewicht dokumentiert werden, um frühzeitige Hinweise auf eine kardiovaskuläre Nebenwirkung zu erfassen.
•    Die Krankenkassen sollten die Leitfunktion von Diclofenac überdenken.

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NB: Einige dieser Schlussfolgerungen habe in der folgenden Grafik zusammengefasst (die sich in Teilen auch auf die Ausführungen unseres Südtiroler Kollegen Simon Kostner in der ZFA 3-2013 beziehen).

Wenn Sie nach diesem notwendig längeren Text nun ein wenig erschöpft sind, kann ich das in aller Empathie gut verstehen. Ich bin allerdings auch geschafft…

Meinen Plan, heute noch über etliche andere Studien zu schreiben, werde ich daher auf das nächste Mal verschieben…


2        Zur Entspannung lediglich noch einige Bilder:

Ein 84-jähriger Mann stellte sich mit seit sechs Stunden anhaltenden Sehstörungen vor. Neurologisch konnte lediglich eine rechtsseitige, homonyme Hemianopsie festgestellt werden. Die Ohrläppchen des Patienten sahen so aus (hier die rechte Seite)

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Dermaßen auffällige Ohrläppchenfalten fungieren in der Literatur als Frank´sches Zeichen, dessen diagnostische Aussagekraft mit einer Sensitivität von ca. 48% und einer Spezifität von ca. 88% allerdings nicht überschätzt werden sollte (Zapatta-Weinberg G, Vivancos J. NEJM 2013; 368; e32)


3        Das nächste Bild zeigt einen 6-jährigen Jungen, der über einen juckenden Hautausschlag klagte – zwei Tage nach dem Genuss von Büchsenmakrelen.

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Es handelt sich um eine sog. „Scombroid-Vergiftung“. Zwei Schweizer Veröffentlichungen beschreiben, was darunter verstanden wird: "Thunfische, Sardellen und Makrelen (Familie Scombroidae) enthalten in ihren Muskeln extrem viel Aminosäure Histidin. Verderben diese Produkte durch bakterielle Kontamination / mikrobiologische Zersetzung entsteht aus Histidin das biogene Amin Histamin. Histamin kann sehr hohe Konzentrationen (2000 – 5000 mg/kg) erreichen. Es ist Auslöser der sogenannten „Scombroid“-Vergiftung, die weltweit zu den häufigsten Fischvergiftungen gehört."

Eine der Publikationen mit dem anregenden Titel „Die Rache des Thunfisches“ können Sie im Schweizer Medizinischen Forum frei herunterladen unter www.medicalforum.ch/pdf/pdf_d/2004/2004-13/2004-13-049.pdf


4        Ein kleiner Nachtrag zum vorletzten Benefit: Bei der Darstellung der Folgen einer kryotherapeutischen Behandlung multipler Warzen sprach ich von „Frostbeulen“. Falsch! Die korrekte Übersetzung des englischen Wortes „frostbites“ lautet Erfrierung – worauf mich unabhängig zwei Kollegen aufmerksam machten. Mit Dank für ihre Aufmerksamkeit gelobe ich Besserung!


5        Der folgende Hinweis sollte von seiner Bedeutung eigentlich an oberster Stelle stehen (und viele von Ihnen haben diesen Termin schon fest in Ihren Kalender eingetragen):

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) veranstaltet vom 12. – 14. September 2013 ihrem Jahreskongress in München. An drei Tagen wird  auf wissenschaftlicher Basis diskutiert, wo die Herausforderungen und Chancen der Entwicklung zu mehr Komplexität liegen. Das Besondere am diesjährigen Treffen ist, dass die Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) sowie die Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM) Mitveranstalter sind. Ein echter „Drei-Länder-Kongress“…

Sollten Sie sich noch nicht angemeldet haben: Bis zum 30. Juni gilt noch der Frühbucherrabatt - Mitglieder zahlen 145 statt 180 Euro und Nichtmitglieder 235 statt 275 Euro. Ausgenommen von dieser Regelung sind Studierende (45 Euro), Medizinische Fachangestellte (70 Euro) sowie Ärzte in Weiterbildung (100 Euro), die ohnehin eine ermäßigte Teilnahmegebühr zahlen.

Den ständig aktualisierten Programmablauf finden Interessierte auf der Kongresshomepage unter www.degam2013.de, die Online-Anmeldung unter www.degam2013.de

Herzliche Grüße
Michael M. Kochen

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Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Ludwigstr. 37
D-79104 Freiburg/Germany
Tel.  +49-761-1513566
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