Die Sirenenklänge der Industrie
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
1 wo man auch hinhört: Die sog. Neuen Antikoagulantien stoßen bei Hausärzten auf unverändert großes Interesse, sorgen gleichzeitig aber auch für Unsicherheit, insbesondere wenn man die oft interessengeleiteten Entlassungsbriefe aus den Krankenhäusern betrachtet.
Da kommt es gerade recht, dass in der neuesten Ausgabe des Schweizer drug bulletins „pharma-kritik“
• je ein Übersichtsartikel zu Dabigatran und Apixaban sowie
• ein kurzer Vergleich mit synoptischer Tabelle zu Apixaban, Dabigatran und Rivaroxaban
veröffentlicht wurden. Sie stammen aus der Feder des Herausgebers Etzel Gysling, der als hausärztlicher Internist in Wil praktiziert und seit Jahrzehnten ein spezielles Interesse an klinischer Pharmakologie hat. Mit seiner freundlichen Genehmigung hänge ich die Texte diesem Benefit an.
Ich möchte nun keineswegs der Lektüre der wirklich lesenswerten Arbeiten vorgreifen, sondern lediglich aus den Schlussfolgerungen zitieren.
Zu Dabigatran heißt es:
„Personen mit Vorhofflimmern sind ganz überwiegend ältere Leute, bei denen die Nierenfunktion schon primär nicht ideal oder auch im Zusammenhang mit den verschiedensten Interventionen sekundär verschlechtert sein kann. Dazu kommt, dass – trotz beschwichtigenden Äußerungen der FDA – keineswegs völlig klar ist, ob Dabigatran nicht mit einem vergleichsweise erhöhten Blutungsrisiko verbunden ist. Damit ist Dabigatran aus meiner Sicht vorderhand keine optimale Schlaganfall-Prophylaxe bei Vorhofflimmern. Eine Behandlung mit einem Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon (Marcumar®) bietet dagegen relevante Vorteile: jahrzehntelange Erfahrung, zuverlässige Kontrollmöglichkeiten und ein brauchbares Antidot“.
Und zu Apixaban:
„Nachdem Apixaban nun in den USA bei Vorhofflimmern und in der EU sowohl für die Thromboseprophylaxe als auch bei Vorhofflimmern zugelassen ist, muss angenommen werden, dass die entsprechende Zulassung in der Schweiz nur eine Frage der Zeit ist. Man kann hoffen, dass dann auch der obszöne Preis (mehr als doppelt so viel wie in Deutschland!) gesenkt wird. Ist aber dann Apixaban das «richtige» Antikoagulans? Diese Frage muss zurzeit klar verneint werden. Wie bei den anderen «neuen» Antikoagulantien fehlen umfassende Langzeiterfahrungen; es gibt keine geläufige Methode, die antikoagulierende Wirkung zu messen und wir kennen kein Antidot. So schön die Studienresultate (beispielsweise von ARISTOTLE) aussehen und wie «unerhört praktisch» die kontrollenfreie Antikoagulation sein mögen – die zahlreichen Unsicherheiten sollten uns davon abhalten, den Sirenenklängen der Industrie allzu bereitwillig zu folgen“.
NB: Interessenten an der pharma-kritik seien auf die Webseite www.infomed.ch verwiesen.
2 Dänemark (5,53 Millionen Einwohner) gilt weithin als eine Art Schlaraffenland für die Allgemeinmedizin:
• Das Gesundheitssystem ist strikt primärärztlich orientiert,
• alle Personen tragen sich in Listen ein (auch wenn sie die Praxis als Patient gar nicht betreten) und
• die Vergütung ist in Relation zum Arbeitsaufwand spürbar höher als in Deutschland.
[NB: Die meisten dänischen Patienten hüten sich übrigens, zwischen 13:00 und 15:00 Uhr anzurufen, denn dann sitzt das dänische Praxisteam zusammen und isst gemeinsam. Dieses Gemeinschaftsmahl heißt auf Dänisch „Frokost-Tid“ - wie ich dem Artikel Hausarzt-Medizin in Dänemark von Günther Egidi entnehme (ZFA 2006; 82: 11–17)].
Nicht nur den Hausärzten, auch den dänischen Epidemiologen geht es gut, können sie sich doch aus einer ganzen Reihe von nationalen Registern z.B. zu Krankheitsinzidenz, Arzneiverordnungen oder Todesursachen bedienen.
Angesichts dieser fast paradiesischen Situation reibt man sich verwundert die Augen, wenn man die neueste Ausgabe des European Journals of Clinical Pharmacology aufschlägt. Dort wird eine Arbeit publiziert, die sich mit der hausärztlichen Erstverordnung von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) bei bislang unbehandelten Patienten auseinandersetzt.
„Hausärztliche Erstverordnung bei bislang unbehandelten Patienten“ heißt, dass
• die Substanz zumindest in den letzten 24 Monaten nicht verschrieben worden war, also auch kein Spezialist mit einem Rezept den künftigen Therapieweg bestimmt hätte und
• die Patienten in den letzten sechs Monaten auch kein anderes Antidepressivum erhalten hatten.
Analysiert wurden alle zwischen dem 1. April 2009 und dem 31. März 2010 erstmalig ausgestellten Rezepte (n=82.702, davon n=65.313 für bislang unbehandelte Personen) für die Substanzen Citalopram, Escitalopram und Sertralin.
Zwischen Citalopram und dem deutlich teureren Escitalopram (dem linksdrehenden Isomer von Citalopram) gibt es nach wissenschaftlichen Belegen keine relevanten Wirksamkeitsunterschiede. Demzufolge wird Escitalopram in den Nationalen Versorgungsleitlinien Dänemarks auch nicht als Erstwahlmittel empfohlen. Die Herstellerfirma jedoch wirbt u.a. mit dem Pseudoargument eines schnelleren Wirkungseintritts und sponsort (bei der Behandlung der generalisierten Angstkrankheit) fast ausschließlich Studien mit Escitalopram, so dass die Fachgesellschaften dann auch nur diese Substanz in ihre Leitlinien schreiben. Interessenkonflikte: keine angegeben…
Die Ergebnisse der Analyse sehen Sie in der folgenden Tabelle:
Bei den untersuchten Substanzen wird also (wie in vielen anderen Ländern) die große Mehrheit aller Erstverordnungen von Allgemeinärzten ausgestellt und 19.3% wählen initial Escitalopram statt Citalopram (die in der Tabelle angegebenen 17% sind ein Druckfehler). Dass Psychiater und Krankenhausärzte Escitalopram noch stärker bevorzugen als Hausärzte, kann m.E. nicht als Entschuldigung herhalten.
Über die Ursachen dieser Verschreibungspraxis spekulieren die Autoren in Bereichen von Alter oder Geschlecht der Ärzte, Praxisgröße, aber auch Patientenfaktoren. Wenn aber keine Leitlinienempfehlungen verantwortlich und auch sonst keine geheimen Kräfte am Werk sind, darf man gerne den gesunden Menschenverstand einschalten: Die Zahl der Besuche von Pharmareferenten in den Praxen … sie wird auch in Dänemark noch in keinem Register dokumentiert… (Originalarbeit Eur J Clin Pharmacol 2013).
3 Nach Schätzungen sind weltweit mehr als 250 Millionen Menschen von einer Kniegelenksarthrose betroffen. Viele davon haben (oft ohne es zu wissen) einen Meniskusriss. Obwohl es bei anhaltenden Knieschmerzen durchaus schwierig ist, den dafür verantwortlichen Faktor zu identifizieren, wird oft voreilig ein bei der Diagnostik entdeckter Meniskusriss als Anlass für arthroskopische Eingriffe genommen.
Muss man Patienten, die ein Kniearthrose milden bis moderaten Ausmaßes haben und sich einen Meniskusriss zuziehen, operieren oder reicht physikalische Therapie?
Eine amerikanische Studie (RCT: arthroskopische Teilentfernung versus physikalische Therapie, 351 Patienten über 45 Jahren, follow-up nach 6 und 12 Monaten) ergab keinen Vorteil der operativen Behandlung. Allerdings wechselten innerhalb von sechs Monaten 30% der Patienten des konservativen Arms zur Operation (Originalarbeit N Engl J Med 2013).
4 Vor fast genau einem Jahr habe ich eine große amerikanische Datenbank-Studie kommentiert, in der Patienten mit Antibiotikaverordnungen (Amoxycillin, Ciprofloxacin, Levofloxacin und Azithromycin) mit vier Kontrollen ohne Antibiotika verglichen wurden. Bei 5-tägiger Einnahme von Azithromycin war im Vergleich zu Amoxycillin bzw. zur Nichtbehandlung sowohl das kardiovaskuläre als auch das gesamte Sterberisiko erhöht (hazard ratio 2.88 bzw. 1.85).
Jetzt kommt – aus derselben Zeitschrift – eine Betätigung durch dänische Wissenschaftler. Sie haben in einem ihrer Register „einfach nur auf den Knopf gedrückt“ - siehe oben unter Punkt 2 - und folgende Patientengruppen (18 – 64 Jahre) miteinander verglichen:
• 1.102 Mill. Azithromycin-Behandlungen (berechnet als 5 Tage-Episoden)
• 7.367 Mill. Penicillin-V-Behandlungen (berechnet als 5 Tage-Episoden)
• 1.102 Mill. Behandlungen ohne Antibiotikaverordnung
Die Ergebnisse sehen Sie in der folgenden Tabelle:
Demnach ist die Einnahme von Azithromycin mit einem fast dreifachen Risiko eines kardiovaskulären Todesfalls assoziiert (allerdings nur innerhalb der ersten fünf Tage).
Letztes Jahr hat mich ein Kollege aus Hüste angeschrieben und korrekterweise darauf hingewiesen, dass alle Makrolidantibiotika als Gruppeneffekt eine QT-Verlängerung bewirken und somit Torsade de pointes auslösen können (Originalarbeit N Engl J Med 2013).
5 Die fotografischen Falldarstellungen in den Benefits erfreuen sich offenbar großer Beliebtheit. Im Folgenden einige neue Bilder.
Um welche eindrucksvollen Veränderungen handelt es sich hier (15-jähriger Patient ohne Vorerkrankungen)?
Diagnose: Frostbeulen. Die etwas eigentümliche Lokalisation ist leicht erklärt. Der Hausarzt dieses Patienten hatte den Jungen wegen multipler Warzen (etwas zu energisch) kryotherapeutisch behandelt. Im Krankenhaus wurden die Läsionen wie Verbrennungen therapiert (Debridement, Jod, steriler Verband) und heilten folgenlos ab
(Tickunas T. Frostbite developing secondary to cryotherapy for viral warts. Br J Gen Pract 2013; 63: 239-40)
Das nächste Bild stammt von einem 48-jährigen Mann mit bekannter Hypertonie, der sich in der Sprechstunde mit seit zwei Wochen anhaltendem Juckreiz vorstellte. Die Beschwerden hatten an beiden Knöcheln begonnen und sich dann symmetrisch auf Knie, Rücken und Arme ausgebreitet. Gesicht, Handflächen und Fußsohlen waren ausgenommen. Außer häufigem Wasserlassen wurden keine weiteren Probleme berichtet, Medikamente wurden nicht eingenommen.
Ein kurzer „Laborcheck“ erbrachte folgende Werte:
• Blutzucker 517 mg/dl
• Gesamtcholesterin 521 mg/dl
• Triglyceride 4.425 mg/dl
Diagnose: Eruptive Xanthome
(Green WL, et al. A rash in a man. Ann Emerg Med 2013; 61: 595 + 603)
Eine junge Frau kommt in die Sprechstunde und klagt über subfebrile Temperaturen und bläschenartige Hautläsionen.
Hier erst einmal das Bild ihrer Hände:
Etwas verwirrend, finden Sie nicht auch?
Die Diagnose dürfte aber klar werden, wenn Sie einen Blick auf die Lippen der jungen Frau werfen.
Diagnose: Herpes simplex Typ 1.
Die Läsionen zeigen sich (bei immunkompetenten Patienten) zwar meist an einem Ort, könne aber durch sog. Autoinokulation auch an anderen Stellen auftreten.
(Teckchandani S, Papafio C. Oral and hand lesions. BMJ 2013; 346: f2683)
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
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- Dabigatran_-_Apixaban-pharmakritik_3-2013.pdf (157,5 KiB)
- Danish_physicians___preferences_for_prescribing_escitalopram_over_citalopram_and_sertraline-EurJClinPharmacol2013.pdf (107,1 KiB)
- Drei_neue_Antikoagulantien_im_Vergleich-pharmakritik2013.pdf (244,4 KiB)
- Surgery_versus_Physical_Therapy_for_a_Meniscal_Tear__and_Osteoarthritis-NEJM2013.pdf (570,2 KiB)
- Use_of_Azithromycin__and_Death_from_Cardiovascular_Causes-NEJM2013.pdf (522,9 KiB)
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