Eselsbrücken
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
1 wahrscheinlich erinnern sich alle Leser/innen noch aus dem Studium an bestimmte Eselsbrücken (im Englischen heißen solche Gedächtnisstützen „Mnemonics“). Eine der beliebtesten ist vielleicht die mit den „fünf F“ für die Wahrscheinlichkeit von Gallensteinen:
- Fair (hellhäutig bzw. blond)
- Fat (übergewichtig)
- Female (weiblich)
- Fertile (fruchtbar, mindestens ein Kind)
- Forty (40 Jahre [und älter])
Drei Kolleg/innen aus dem Academic Department of Surgery des irischen Royal College of Surgeons in Dublin hatten folgendes Erlebnis, das Sie zu der weiter unten geschilderten Studie motivierte:
In der Ambulanz der Abteilung erschien ein 16-jähriges Mädchen mit rechtsseitigen Oberbauchbeschwerden – in Begleitung ihres frustrierten Vaters. Er berichtete, dass die Mutter und alle fünf Tanten des Kindes an einer Cholelithiasis litten und er – unter expliziter Angabe dieser Fakten - in mehreren Notfallstationen vergeblich versucht habe, eine Ultraschalluntersuchung für seine Tochter zu veranlassen. Argument der offensichtlich auf sparsamen Technikeinsatz bedachten Kollegen: Das Mädchen sei zu jung, Gallensteine in diesem Alter gebe es praktisch nicht.
Vielleicht wollten die Dubliner Chirurgen initial ja nur den aufgeregten Vater beruhigen. Immerhin setzten sie den Schallkopf auf den Oberbauch der jungen Patientin. Und siehe da, die Gallenblase war voller Steine.
Zugegeben, in Deutschland scheint mir dieser Ablauf eher unwahrscheinlich - das Kind wäre wahrscheinlich gleich zweimal geschallt worden oder schlimmstenfalls im CT gelandet , aber das ist nicht der Punkt, den ich machen wollte…
In die Studie, welche die drei Chirurgen daraufhin unternahmen, wurden von März 2009 bis April 2010 398 konsekutive Patienten mit Oberbauchbeschwerden aufgenommen. Alle wurden
- anamnestisch befragt (inklusive der fünf Fs…, aber auch bezüglich der Familienanamnese)
- körperlich untersucht
- sonographiert
- und erhielten eine Blutabnahme zur Bestimmung einiger Laborwerte.
Diejenigen mit Gallensteinen (n=198) wurden mit denen ohne Cholelithiasis (n=200) verglichen [diese 200 steinlosen Patienten wurden weiter untersucht und erhielten schlussendlich die Diagnosen „Gastritis“ (45%), Ösophagitis (32.5%) und Duodenalulkus (22.5%)].
In einer multiplen Regression wurde dann bestimmt, welche der fünf Fs, ergänzt um die Familienanamnese als sechsten Punkt, die stärkste Vorhersagekraft für das Vorhandensein von Gallensteinen hatte. Für das praktische Vorgehen bei einem konkreten Patienten leiteten die Kollegen dann einen Punktscore ab.
Bei der Auswertung wurde schnell klar, dass sich einer der fünf Fs, nämlich das Alter, als wertlos herausstellte (mittlerer Altersunterschied der beiden Gruppen: 8 Monate; über 40 Jahre alt waren 41% der Personen mit und 39,5% derjenigen ohne Gallensteine – alle Unterschiede statistisch nicht signifikant). Die Familien-Vorgeschichte hingegen erwies sich – ebenso wie Übergewicht, und Hellhäutigkeit bzw. blonde Haarfarbe - als bedeutsamer Vorhersagefaktor.
Und so sah diese Tabelle aus (OR = odds ratio)
Quintessenz: Vier der fünf Fs spielen für die Diagnose Cholelithiasis weiterhin eine bedeutsame Rolle. Beim fünften F aber sollte das Alter („Forty“) durch die Familienanamnese („Familial“) ersetzt werden.
Trotz der Tatsache, dass die Familienmedizin
- integraler Teil der Allgemeinmedizin ist (USA: Allgemeinmedizin = family medicine)
- die DEGAM Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin heißt
- und eine gründliche Anamnese mit familiärer Vorgeschichte für Hausärzte Routine ist
scheinen mir familienmedizinische Aspekte im praktischen Alltag (aber auch in der Forschung) oft unterbelichtet. Vielleicht kann diese Studie der guten Sache ein wenig auf die Sprünge helfen…
Die Originalarbeit aus dem Postgraduate Medical Journal 2013 finden Sie im Anhang
2 Eine 65-jährige, gesunde Frau fährt zu einem Begräbnis einer guten Freundin und erlebt dort erschütternde Szenen von Trauer und Verzweiflung. Im Anschluss kommt es bei ihr zu plötzlichen Gedächtnisstörungen und Desorientierung; sie fragt die Umstehenden wiederholt nach Ort und Zeit sowie nach den teilnehmenden Personen.
Es wird ein Krankenwagen gerufen, der sie zur nächsten Klinikambulanz bringt. In der Notfallaufnahme telefoniert sie mit ihrem Bruder … einem Neurologen. Er diagnostiziert am Telefon das, was die meisten von Ihnen auch schon vermutet haben dürften: Eine transiente globale Amnesie (TGA).
Die Ätiologie dieses Syndroms (das ursprünglich einmal mit Epilepsie, Schlaganfall und Migräne in Verbindung gebracht wurde) ist unbekannt; Rezidive sind extrem selten und Langzeitfolgen unbekannt.
Als positive diagnostische Kriterien gelten:
- Anfall von Zeugen beobachtet
- keine fokalen neurologischen oder kognitiven Defizite
- keine Krampfaktivitäten
- keine Bewusstseins- oder Identitätsstörungen
- Dauer unter 24 Stunden
Alle diese Kriterien werden von der Frau erfüllt.
Der Neurologe spricht mit dem behandelnden Aufnahmearzt und beide „scherzen“ über die exzellente Prognose der TGA im Gegensatz zur initial immer wieder alarmierenden Symptomatik. Zwar ist die Patientin innerhalb von rund sechs Stunden völlig beschwerdefrei, wird aber dennoch für eine Nacht stationär „zur Beobachtung“ aufgenommen und einer ausführlichen Diagnostik unterzogen, darunter:
- CT-Schädel („zum Ausschluss einer intrazerebralen Blutung“)
- MRT-Angiogramm der intrazerebralen und Nackengefäße
- EEG
- kardiologischer Rundumschlag („zum Ausschluss von Emboliequellen“)
- umfangreiches Labor
- diverse Konsile
Alle diagnostischen Resultate sind normal.
Wenige Tage nach Entlassung kommt die Rechnung: 42.000 US-Dollar.
Bei Angabe der Währung brauchen Sie nicht mehr zu fragen, in welchem Land sich das abgespielt hat. Aber Hand aufs Herz, glaubt einer von Ihnen, das wäre in Deutschland anders gelaufen?
Diese Geschichte von übermäßigem Einsatz diagnostischer Technologie an Stelle von klinischen Überlegungen, fraglichem ärztlichen „Sicherheitsstreben“ (oft zulasten des Patienten) und resultierender Über- oder besser Fehlversorgung ist natürlich nicht erfunden: Der Autor heißt Steven H. Horovitz, ist praktizierender Neurologe und dem renommierten Massachusetts General Hospital der Harvard Universität assoziiert. Veröffentlich hat er die Schilderung in JAMA Int Med 2013: 173: 1493-94.
Für diejenigen, die an einer konzisen Übersicht zum Thema TGA interessiert sind, habe ich eine Arbeit aus 2011 angehängt (Transient global amnesia - a brief review and update. Curr Neurol Neurosci Rep 2011).
3 Schon vor geraumer Zeit haben Studien darauf hingewiesen, dass für hypertone Diabetiker die gleichen (und nicht etwa niedrigere) Grenzwerte gelten sollten wie für Nichtdiabetiker. Ein neuer Cochrane-Review, der alle großen Datenbanken von 1946 – 2013 durchforstete, fand zum Thema fünf randomisierte Untersuchungen (mit insgesamt 7.314 Patienten und einer mittleren Nachfolgedauer von 4,5 Jahren).
Untersucht wurden klinische Endpunkte mit niedrigerem (< 120 mm Hg) oder normalem (< 140 mm Hg) Blutdruckziel. Nur eine der Arbeiten (ACCORD-Studie) betrachtete den systolischen und vier Arbeiten ausschließlich den diastolischen Druck.
Im Endergebnis war zwar die Inzidenz eines Schlaganfalls in der Gruppe mit strafferer Einstellung um absolut 1.1% niedriger, die Gesamtmortalität unterschied sich hingegen nicht. Hinzu kommt: Die Versuche, einen niedrigeren Blutdruck zu erreichen, waren mit einer deutlich höheren Rate an z.T. schweren Nebenwirkungen verbunden (absoluter Unterschied 2%).
DEGAM-Mitglieder haben freien Zugang zum Volltextarchiv der Cochrane Library (wer seine Zugangsdaten nicht mehr hat, kann sie bei der Geschäftsstelle anfordern, geschaeftsstelle@degam.de). Die Arbeit hängt aber dieser Nachricht an (Blood pressure targets for hypertension in people with diabetes mellitus. Cochrane Database Syst Rev 2013-CD008277).
NB: Im Journal of the American Medical Association fand ich eine „personalisierte“ Grafik mit einem Algorhithmus zur Vorgehensweise bei Hochdruckpatienten. Personalisiert heißt, dass an verschiedenen Stellen eigene Daten wie z.B. Blutdruckwerte oder Arzneisubstanzen eingesetzt werden können. Das Protokoll ist nur eine Seite lang … und auf Englisch. Wer daran interessiert ist, kann es im Anhang finden (Personalized Protocol for Controlling Hypertension in Adults - JAMA 2013)
4 Vor wenigen Monaten habe ich auf ein Cochrane-Review hingewiesen, der untersuchte, ob die Influenza-Impfung von ärztlichem und Pflegepersonal in Altenheimen zu einer relevanten Senkung von (labormäßig bewiesenen) Grippeerkrankungen und deren Komplikationen bei den Heimbewohnern führt. Die Autoren kamen zu einem negativen Ergebnis (wobei in den Studien Informationen bezüglich Händewaschen, Gesichtsmasken, Quarantänemaßnahmen etc. fehlten).
Das British Medical Journal hat jetzt im Rahmen seiner immer spannenden „head to head“ Dispute einen Text zu pro und contra der verpflichtenden Grippeimpfung für Gesundheitsarbeiter publiziert. Die Arbeit (Should influenza vaccination be mandatory for healthcare workers? BMJ 2013) ist angehängt.
5 Wer von Ihnen hat Kinder in der Grundschule, die mit einer Zahnspange behandelt werden?
Spiegel online hat kürzlich ein Interview mit dem in Ludwigshafen niedergelassenen Kieferorthopäden Dr. Henning Madsen geführt. Sein Fazit: „Grundschulkinder zu behandeln, ist in der Regel überflüssig“. Den Text finden Sie unter www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/in-deutschland-werden-kinder-zu-frueh-mit-zahnspangen-behandelt-a-930626.html
Auf seiner Webseite weist der Kollege auch auf den “Leitfaden kinderärztlich-kieferorthopädische Untersuchung” der Berufsverbände deutscher Kieferorthopäden und Kinder-und Jugendärzte hin. Er soll Pädiater dazu veranlassen, flächendeckend Kinder auf kieferorthopädische Befunde zu untersuchen und an Kieferorthopäden zu überweisen. In einem offenen Brief an die Bundes- und Landesverbände beider Organisationen fordert er, diesen Leitfaden zurückzuziehen. Ein flächendeckendes Screening auf kieferorthopädische Befunde sei rational nicht zu rechtfertigen und würde eine Welle medizinisch nicht sinnvoller Frühbehandlungen auslösen. www.madsen.de/blog/2013/09/18/grober-unfug-leitfaden-kinderaerztlich-kieferorthopaedische-untersuchung/
6 Zum Schluss möchte ich Ihnen noch eine Übersicht zum Thema Schilddrüsendiagnostik (speziell TSH-Erniedrigung) empfehlen - angeregt durch häufige Anfragen im Listserver Allgemeinmedizin www.listserv.dfn.de/archives/allgmed-l.html, aber auch Wünsche aus dem Kreis der Moderatoren hausarztzentrierter Verträge in Baden-Württemberg.
Die Arbeit „Investigating low thyroid stimulating hormone (TSH) level“ ist in der Reihe Rational Testing des British Medical Journal erschienen und hängt diesem Benefit an.
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
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Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
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Tel. +49-761-1513566
Fax +49-761-1513567
Änderungen Ihrer e-mail-Adresse bitte an geschaeftsstelle@degam.de senden, nicht an meine Adresse.
- Blood_pressure_targets_for_hypertension....pdf (413,0 KiB)
- Blood_pressure_targets_for_hypertension..._01.pdf (413,0 KiB)
- Investigating_low_thyroid_stimulating_hormone__TSH__levels-BMJ2013.pdf (403,2 KiB)
- Personalized_Protocol_for_Controlling_Hypertension_in_Adults-JAMA2013.pdf (1,5 MiB)
- Should_influenza_vaccination_be_mandatory_for_healthcare_workers-BMJ2013.pdf (208,7 KiB)
- Transient_Global_Amnesia_-_A_Brief_Review_and_Update-CurrNeurolNeurosciRep2011.pdf (132,5 KiB)
- Validating_the_5Fs_mnemonic_for_cholelithiasis_-_time_to_include_family_history-PMJ2013.pdf (644,0 KiB)
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