Harnsäure und kardiovaskuläre Erkrankungen - kein Zusammenhang

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

das heutige Benefit ist ein wenig umfangreicher, als Sie es gewohnt sind. Vielleicht finden Sie in den sonnigen Wochen des Juli die eine oder andere Gelegenheit zur entspannten Lektüre.

1. „Hoher Blutdruck bei Patienten mit Gicht wird zum Teil von Harnsäure oder anderen toxischen Substanzen im Blut verursacht, die den Tonus der Arteriolen in der Niere erhöhen“. Diese Aussage ist 116 Jahre alt – sie wurde 1897 von Dr. Nathan S. Davis, dem damaligen Präsidenten der amerikanischen Ärztekammer (American Medical Association) gemacht.

Erst Mitte der 50-er und Anfang der 60-er Jahre des letzten Jahrhunderts tauchte die Hypothese wieder auf, ein erhöhter Harnsäurespiegel sei ein unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und Hypertonie.

In einer Übersichtsarbeit im New England Journal of Medicine (2008) schrieben die Autoren Feig und Kollegen, dass es zur Zeit keine Beweise für eine kausale Beziehung gebe und rieten von einer diesbezüglichen Behandlung der asymptomatischen Hyperurikämie ab. Danach fanden mehrere Metaanalysen doch wieder einen Zusammenhang, wobei das Ausmaß des vermeintlichen Risikos niedrig war (in einer Arbeit betrug das relative Risiko 1,09 [95%-Konfidenzintervall 1.03 – 1.16]).

Zu diesem Auf- und Ab im Laufe der letzten hundert Jahre gesellt sich jetzt eine Studie im British Medical Journal, bei der es sich um eine sog. Mendel´sche Randomisierungsanalyse (MRA) handelt.

Um diese erstmals vor zehn Jahren beschriebene epidemiologische Technik genau zu verstehen, müsste man eine erklärende Arbeit lesen, die ich für Interessierte angehängt habe. Kurz gesagt möchte die MRA aus Beobachtungsstudien kausale Ursachen herausarbeiten. Sie fokussiert dabei auf bekannte genetische Varianten, die mit einem bestimmten Risikofaktor (hier der Hyperurikämie) in der untersuchten Population zusammenhängen.

Die britischen und dänischen Autoren nahmen sich für ihre Studie zwei Kohorten vor - die sog. Copenhagen General Population Study (58.072 Teilnehmer) und die Copenhagen City Heart Study (10.602 Teilnehmer). Aufmerksame Leser der Benefits werden sich an frühere Veröffentlichungen erinnern, bei denen diese Kohorten (aus dem „Land der unbegrenzten epidemiologischen Möglichkeiten“) für andere Fragestellungen untersucht wurden.

Die Resultate zeigten zunächst die bekannten Zusammenhänge zwischen Plasmaharnsäure bzw. Hyperurikämie und dem Risiko einer KHK sowie systolischem sowie diastolischem Blutdruck. Mit der Anwendung der Genotypisierung aber verschwanden diese Zusammenhänge. Vielmehr stellte sich der Body Mass Index als kausaler Risikofaktor heraus, der wahrscheinlich die früheren Metaanalysen verzerrt hatte.

Quintessenz:

• Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Höhe des Harnsäurespiegels und der Inzidenz bzw. Schwere einer KHK oder einer Hypertonie erscheint extrem unwahrscheinlich.
• Eine entsprechende Behandlung zur Senkung einer Hyperurikämie ist daher nicht indiziert.
• NB: Auch die harnsäuresenkende Therapie zur Verhinderung einer Gicht ist bei Personen ohne familiäre Risiken (vielleicht mit der Ausnahme extrem erhöhter Werte) nicht angebracht.

Die Studie im BMJ können Sie sich frei unter www.bmj.com/content/347/bmj.f4262 herunterladen. Die Arbeit mit der Beschreibung der Mendel´schen Randomisierungsanalyse (BMJ 2012) ist angehängt.

2. Heftige Hustenanfälle nach einer respiratorischen Virusinfektion zählen zu den häufigsten Beratungsanlässen in der hausärztlichen Praxis und dürften allen praktizierenden Hausärzt/innen gut bekannt sein.

Auf dem Markt werden multiple Selbstmedikationspräparate angeboten, deren Effektivität entweder gar nicht untersucht ist oder fehlt. Auch verschreibungspflichtige Arzneimittel wie z.B. topische Bronchodilatatoren haben sich in Studien als unwirksam erwiesen.

Wie aber steht es um die Effektivität topischer Corticosteroide?

Britische Autoren haben in einer systematischen Übersichtsarbeit aus allen gängigen Datenbanken und Studienregistern ganze vier randomisiert kontrollierte Arbeiten identifiziert, die insgesamt 335 Patienten einschlossen (eine beschämend geringe Zahl, wenn man die Häufigkeit des Beschwerdebildes und die oft resultierende Arbeitsunfähigkeit betrachtet).

Abgesehen von methodischen Schwächen waren

• die Herkunftsländer (1x Deutschland, 1x Österreich, 1x NL, 1x Thailand),
• das Patientensetting (nur eine Studie fand definitiv in hausärztlichen Praxen statt)
• die Behandlungsdauer (von 7 Tagen bis zu vier Wochen) und
• die erlaubte Paralleltherapie (von Mucolytica über Hustenblocker bis hin zu Tetrazyklinen)

extrem divers.

Das Resultat der Studie ist enttäuschend:
• Zwei der vier eingeschlossenen Arbeiten kamen zu einem unentschiedenen Resultat,
• zwei zeigten einen statistisch signifikanten Vorteil beim mittleren Hustenscore und bei der Häufigkeit.

Quintessenz: Für eine metaanalytische Berechnung reichten die Ergebnisse nicht aus. Ein wissenschaftliches Armutszeugnis, das natürlich nicht den rührigen Autoren anzulasten ist.

Trotz des formalen Fehlens einer hohen Evidenzstufe oute ich mich hier als jemand, der solchen Patienten immer eine knapp einwöchige inhalative Therapie mit zweimal täglich 100 mcg Beclometason anbietet (dabei kann man die Inhalationstechnik u.U. mit einem Plazebo-Aerosol demonstrieren und sollte nicht vergessen, eine regelmäßige postinhalative Mundspülung zu empfehlen). Das Nebenwirkungsrisiko ist für diese kurze Behandlungszeit denkbar gering, die Wirksamkeit oft eindrucksvoll (Originalarbeit Fam Pract 2013).

3. Schon mehrfach haben sich DEGAM-Benefits mit dem von vielen Augenärzten als IGeL-Leistung angebotenen (besser: aufgedrängten) Glaukomscreening befasst. Dass es – außer Kohle – nichts bringt, ist zwar gut bekannt, aber ein weiterer Hinweis kann sicherlich nicht schaden.

Die für Screeninguntersuchungen zuständige US Preventive Services Task Force hat gerade in den Annals of Internal Medicine eine Leitlinie veröffentlicht, die entsprechende Empfehlungen aus dem Jahr 2004 aktualisiert. Der Text bezieht sich auf Erwachsene ohne okuläre Symptome in der hausärztlichen Versorgung.

Die Schlussfolgerung lautet, dass die wissenschaftlichen Belege nicht ausreichen, um Nutzen und Schaden des Screenings zu bewerten. Für Deutschland gilt: Gäbe es eine solche Evidenz, könnte sie – je nach Ausfall – finanziellen Schaden anrichten. Gott behüte…

Der Artikel ist – z.B. zum Weiterreichen an Augenärzte - frei verfügbar unter annals.org/article.aspx


4. Was können Sie Ihren adipösen Patient/innen zum Abnehmen anbieten?

Neben unzähligen Diätempfehlungen, Trainingsanleitungen und Arzneimitteln fand ich im Australian Family Physician einen als wissenschaftlichen Beleg wohl nicht sehr bekannten Hinweis: Wasser trinken…

Die auf einer Seite zusammengefasste Evidenz bezieht sich auf

• eine systematische Übersichtsarbeit, frei herunterladbar unter www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2929932/
• und eine kontrollierte Studie, ebenfalls frei verfügbar unter www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2859815/
beide aus dem Jahre 2010.

Die Empfehlung:

• 500 ml Wasser, 30 Minuten vor jeder Mahlzeit trinken (der selbe Effekt könnte vielleicht auch bei Trinken während des Essens eintreten)
• Das „Rezept“ wirkt nur bei Patienten in mittlerem und höherem Alter und
• führt zu ca. 2 kg Gewichtsabnahme innerhalb von 12 Wochen
• Kontraindikationen: Herzinsuffizienz, höhergradige Niereninsuffizienz, ggf. Inkontinenz, Prostatahyperplasie mit Neigung zu Harnverhalt
• Mögliche unerwünschte Wirkung (sehr selten): Hyponatriämie

Quelle: Austral Fam Phys 2013: 42: 478 (frei unter www.racgp.org.au/afp/2013/july/pre-meal-water/)


5. Bekanntlicherweise bessern einige Kolleg/innen ihr Salär durch kurz- oder längerfristige ärztliche Tätigkeiten in Großbritannien auf. Falls es zu Problemen kommt (z.B. Behandlungsfehler) und der zuständige General Medical Council (GMC) darüber eine endgültige Entscheidung fällt, werden die Details und der volle Namen des oder der Betreffenden schon mal im British Medical Journal publiziert. Das sollte man als Interessierte/r wissen…

In einem kürzlich veröffentlichten Fall ging es um einen Arzt aus Deutschland, der z.T. bis zu 24 Tage ohne Unterbrechung je 13 Stunden arbeitete. Er soll als notdiensthabender Arzt am Telefon u.a. eine Präeklampsie mit typischer Symptomatik nicht erkannt und einen 6 Monate alten Säugling mit zweitägigem Erbrechen und fehlenden Darmgeräuschen weder untersucht noch eingewiesen haben.

Im Urteil des GMC steht, der Kollege habe Patienten durch Defizite bei Beratung und medizinischen Kenntnissen einem unvertretbaren Risiko eines schweren Schadens ausgesetzt.

Er muss künftig alle Arbeitgeber im UK über die Entscheidung informieren, dem GMC einen persönlichen Entwicklungsplan zur Korrektur der benannten Defizite einreichen und darf nur unter Aufsicht arbeiten. Der Medical Practitioners Tribunal Service informiert zudem alle Stellen der ärztlichen Selbstverwaltung in Deutschland über das Dekret.

Zum Schluss zitiert das BMJ die (letzte) elektronische Mitteilung des Kollegen an den GMC: „Ich möchte Sie darüber informieren, dass Sie meine Akten schließen können, da ich nicht mehr im UK arbeiten werde. In meinen Augen war das Verfahren von Anfang an unfair und hat nur Kosten verursacht. Bitte stellen sie Ihre Sendungen von Papierkram ein. Ich habe besseres zu tun“.

(BMJ 2013; 346 doi: dx.doi.org/10.1136/bmj.f3727)

6. „Was weiß die Medizin wirklich? Wie können Patienten erkennen, ob die Empfehlungen ihres Arztes auf gesichertem Wissen beruhen oder auf zufälligen Einzelerfahrungen und Vorlieben?“.

So lautet der Ankündigungstext für ein neues Patientenbuch, das soeben unter dem Titel „Wo ist der Beweis?: Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin“ erschienen ist. Als Herausgeber des englischen Originals fungieren Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers und Paul Glasziou; deutscher Herausgeber ist der Leiter des hiesigen Cochrane-Zentrums, Gerd Antes.

Das 260 Seiten umfassende Buch kostet gebunden 24,95 Euro und ist - Jubel, Trubel, Heiterkeit – für alle Besitzer eines Internet-Zugangs frei verfügbar unter de.testingtreatments.org/tt-main-text/


7. Interessenkonflikte sind ein zunehmend wichtiges Thema, wenn es um die Glaubwürdigkeit von Fachgesellschaften, Zeitschriften oder Leitlinien geht. Sollten Sie annehmen, dass auch die gegenwärtige Regierung sich diesen Transparenzregeln unterwirft, liegen Sie … fast richtig.

Die Sponsorenliste des Bundesministeriums für Gesundheit für die Jahre 2009 – 2010 umfasst den geradezu lächerlich geringen Betrag von fast 52 Millionen Euro. Davon gingen 51.390.112,15 Euro an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 357.809,92 Euro an das Robert-Koch-Institut.

In der Liste sind sicher auch honorige Spender und vernünftige Projekte enthalten. Etwas eigentümlich muten allerdings Positionen an, über die sich jeder Betrachter seinen eigenen Reim machen darf:

• 23.2 Millionen Euro vom Fachverband Außenwerbung e.V. für die „Nutzung von Plakatfreiflächen für Citylight-und Großflächenplakatierung im Rahmen der Aidsprävention“ und für die Alkoholprävention
• 32.7 Millionen vom Verband der privaten Krankenversicherung für Alkohol – und HIV-Prävention
• 223.000 Euro vom Verband der Deutschen Automatenindustrie e.V. (VDAI), Deutscher Automaten-Großhandels-Verband e.V. (DGAV), Bundesverband Automatenunternehmen e.V.(BA) für … die Prävention von Spielsucht

Die Liste finden Sie unter www.bmg.bund.de/ministerium/aufgaben-und-organisation/sponsoring.html
 

8. Ein Hinweis für die wissenschaftlich Aktiven: Thompson-Reuters (der Betreiber der Datenbank ISI Web of Knowledge und des Journal Citation Reports) hat gerade die neuen Impact-Faktoren für das Jahr 2012 veröffentlicht. Diese Faktoren berechnen u.a. die Zitathäufigkeit einer Zeitschrift. Sie werden aber auch von den meisten Universitäten zur Beurteilung der Publikationsleistungen einzelner Wissenschaftler (miss)braucht. Missbraucht deswegen, weil es keine wissenschaftliche Rechtfertigung für dieses personenbezogene Verfahren gibt - selbst der Gründer der Datenbank, Eugene Garfield, äußerte klar und deutlich, dass sein Produkt zwar Zeitschriften, aber nicht Autoren beurteilen könne.

Wenn Sie die angehängte Datei öffnen, sehen Sie die Aufstellungen für einige Gebietsrubriken, darunter

• Primary Health Care (Spitzenreiter Ann Fam Med; 4.613)
• Medicine, General and Internal (New Engl J Med; 51.658 – das BMJ jetzt an die vierte Stelle aufgestiegen mit 17.215)
• Den höchsten Impact-Faktor aller Zeitschriften hat das frei verfügbare CA-Cancer Journal for Clinicians, nämlich 153.459


9. Amerikanische und englische Kolleg/innen haben sich in prominenten Zeitschriften strikt dagegen ausgesprochen, Ärzte für Zwangsmaßnahmen gegen Hungerstreikende zu missbrauchen.

Es geht konkret um das amerikanische Gefangenenlager an der kubanischen Südostküste, besser bekannt unter dem Namen Guantanamo. Dort befinden sich 100 der 160 Häftlinge, die seit Jahren ohne Anklage einsitzen, im Hungerstreik (was gegen die amerikanische Verfassung verstößt). Vorschläge, eine mögliche Schuld vor ordentlichen Gerichten zu klären, sind bislang am Widerstand der Republikaner gescheitert.

• Der Artikel „Guantanamo Bay: A Medical Ethics-free Zone?“ aus dem New England Journal of Medicine stammt u.a. aus der Feder des vielleicht prominentesten Bioethikers der USA (George J. Annas; Boston University). Er ist  frei verfügbar unter www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp1306065.
• Die Seniorautorin des Artikels „Force feeding of mentally competent detainees at Guantanamo Bay“ aus dem BMJ ist Vivienne Nathanson, eine der Direktorinnen der British Medical Association in London. Der Text ist angehängt.


10. Auf dem folgenden Bild sehen Sie die Augen eines 88-jährigen Mannes, der seit einer Woche über linksseitige Oberbauchschmerzen und eine zunehmende Gelbfärbung der Haut klagt. Bereits seit zwei Monaten plagen ihn Rückenschmerzen und ein allgemeines Krankheitsgefühl. Aus seiner früheren Anamnese ist eine Hypertonie, eine Hypercholesterinämie sowie ein Melanom bekannt.

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Die körperliche Untersuchung ergab folgende Befunde: RR 112/64 mmHg, Puls 76/Min, Temperatur 38,8 °C, Ikterus der Haut und der Skleren des rechten Auges, Spider Naevi, diffuse abdominelle Abwehrspannung, Aszites, Lebergröße ca. 20 cm. Im Labor Bilirubin 108 mmol/L, GOT 234 U/L, GPT 202 U/L, Alkalische Phosphatase 418 U/L, Prothrombinzeit 15 Sekunden.

Abdomineller Ultraschall: Erweiterter Gallengang (13 mm) und zwei echoarme Läsionen im rechten Leberlappen. MRT: Multiple, pathologische Signale in der Leber (s. Bild B)

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Diagnose?

Das in der früheren Anamnese absichtlich etwas ungenau beschriebene Melanom saß im linken Auge (häufigste Lokalisation: Uvea) und führte zu Enukleation sowie Implantation eines Glasauges. Das ist der Grund für die fehlende Gelbfärbung! Die Auswertung aller Befunde ergab eine diffuse hepatische Metastasierung dieses ursprünglichen Tumors.

Eine detaillierte Beschreibung finden Sie im anliegenden Text (Gastroenterology 2013).

NB: Haben Sie sich schon zum Jahreskongress der DEGAM in München angemeldet? degam2013.de

Herzliche Grüße
und noch eine schöne Sommerzeit

Michael M. Kochen

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