Lysetherapie beim akuten ischämischen Schlaganfall: Überwiegen die Risiken den Nutzen?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
1 „The benefit of intravenous recombinant tissue-type plasminogen activator (rt-PA) for the treatment of acute ischemic stroke is well established. Unfortunately, the rates of rt-PA use among US patients with ischemic stroke remain quite low“.
Mit diesem Zitat wird eine kürzlich erschienene Publikation eingeleitet, die sich mit der Lysetherapie des nicht-hämorrhagischen Schlaganfalls beschäftigt (Kleindorfer D, de los Rios La Rosa F, Khatri P, Kissela B, Mackey J, Adeoye O. Temporal Trends in Acute Stroke Management. Stroke 2013; 44 [suppl 1]: S129-S131). Das im Titel angesprochene rt-PA ist ein Enzym, das als körpereigener Aktivator der Fibrinolyse wirkt und ist besser bekannt unter dem Namen Alteplase.
Dass die Lyseraten für amerikanische Schlaganfall-Patienten angeblich so bedauerlich niedrig sind … verursachte bei mir ein spontanes Gefühl der Traurigkeit und ich solidarisierte mich im innersten meiner Seele mit den Gedanken der Erstautorin Dawn Kleindorfer, Professorin und Leiterin der Abteilung Cerebrovascular Disease (Stroke) am College of Medicine der University of Cincinnati.
Bevor ich das Papier zur Seite legte, um nach einem Taschentuch zu suchen, wanderten meine Augen routinemäßig an das Ende des Textes. Dort las ich in kleinerer Schrift: „Dr Kleindorfer is a member of Genentech Speaker’s Bureau“. Sie ahnen es schon: Patentbesitzer von Alteplase ist … Genentech. Wes Brot ich ess´, dess´ Lied ich sing`…
Nun ist es nicht meine primäre Absicht, Sie auf die hier beschriebenen Interessenkonflikte hinzuweisen – da gäbe es noch eindrucksvollere Beispiele. Vielmehr frage ich mich, ob die wissenschaftlichen Belege für die Lysebehandlung des akuten, ischämischen Schlaganfalls wirklich so evidenzbasiert sind, wie es der o.g. Begriff „well established“ suggerieren will.
An dieser Stelle alle Studien zur Wirksamkeit der Fibrinolyse bei Patienten mit akuter zerebraler Ischämie angemessen zu analysieren, würde schon aus Platzgründen scheitern. Da kommt es gelegen, dass sich australische Kliniker im British Medical Journal vom 29. August einen Schlagaustausch zu pro und contra liefern und ihre Argumente auf gerade einmal drei Seiten kondensieren.
Dass die Risiken dieser Behandlung den Nutzen übertreffen, wird von Simon Brown und Stephen MacDonald (beide Professoren für Notfallmedizin an der University of Western Australia in Perth) vertreten. Von 12 kontrollierten Studien zur Wirksamkeit von Alteplase, fielen – gemessen an den primären Endpunkten - gerade einmal zwei positiv aus. Zwei weitere wurden wegen unerwünschter Wirkungen frühzeitig beendet und acht Untersuchungen kamen zu einem negativen Ergebnis. Dieses Muster, so die Autoren, sei typisch für eine unwirksame Therapie.
Brown und MacDonald zitieren eine im Lancet publizierte Metaanalyse aus dem Jahre 2012, die ergab, dass innerhalb der ersten sieben Tage nach Lyse, von 1000 mit Alteplase behandelten Patienten 58 intrakranielle Blutungen erleiden und 25 versterben. Nach 3 – 6 Monaten war die Sterblichkeitsrate in beiden Gruppen (Alteplase; Plazebo) vergleichbar. Die wirklich kritische Frage aber sei die nach dem langfristigen Nutzen der Thrombolyse, der die Risiken der ersten Woche überwiege.
Laut der bereits erwähnten Metaanalyse reduziert Alteplase den aus Tod und Abhängigkeit zusammengesetzten Endpunkt bei 42 von 1000 Patienten, bei Verabreichung innerhalb von drei Stunden bei 90 von 1000 Patienten. Allerdings gibt es bei diesem letzteren Ergebnis einen methodischen Haken: Im Plazboarm derjenigen Studie, welche die meisten Patienten zur Metaanalyse beitrug, wiesen die Patienten deutlich schwerere Schlaganfälle auf als die Teilnehmer des Interventionsarms. Nach einer Neuberechnung der Daten zeigte sich, dass die Benefits der Therapie vorwiegend den leichter Erkrankten zugutekam. Ähnliche Probleme ergaben sich in der europäischen ECASS-III Studie. Auch die jüngste und bislang größte Untersuchung (IST-3) zeigte bez. des primären Endpunktes keinen signifikanten Unterschied.
Die Lyse, so die Autoren, würde definitiv einigen Patienten frühzeitig schaden – für die Annahme eines Nutzens sei jedoch die Beleglage schlecht. Ein Schlaganfall sei nicht mit einem Herzinfarkt vergleichbar und mit der Eröffnung eines blockierten Gefäßes sei es im Gehirn eben nicht getan. Ihre Empfehlung: Lysetherapie für Patienten mit Schlaganfall nur im Rahmen kontrollierter Studien, mit denen herausgefunden werden müsse, ob und bei welchen Personen der Nutzen die bestehenden Risiken überträfe.
Die Gegenposition, die einen nachgewiesenen Nutzen der Thrombolyse postuliert, wird von Graeme J Hankey vertreten, Professor für Neurologie ebenfalls an der University of Western Australia. Er interpretiert die gleichen Quellen, kommt aber zu anderen, nämlich positiven Schlussfolgerungen (ob das an den angegebenen Industriezahlungen liegt, bleibt dahingestellt). Er betont besonders die Notwendigkeit einer zuverlässigen Patientenauswahl; je schneller Alteplase gegeben werde, desto niedriger seien die Blutungskomplikationen. Er führt auch weitere Faktoren an, die zu einem besseren Therapieergebnis führen würden, u.a. jüngeres Alter, geringere Insultausprägung oder normale Nierenfunktion. Diese und andere Faktoren stammen jedoch aus Beobachtungsstudien und sind fehleranfällig.
Quintessenz: Bis heute scheint die Schlussfolgerung eines Cochrane-Reviews aus dem Jahr 2009 unverändert gültig: Die Thrombolyse kann bei ausgewählten Patienten mit akuter zerebraler Ischämie zwar Abhängigkeit vermindern, aber auf Kosten eines erhöhten Blutungsrisikos. Welche Personen von der Behandlung besonders profitieren und welche vor der Therapie geschützt werden müssen, ist bis heute unklar; Einflussfaktoren auf Wirksamkeit und unerwünschte Wirkungen sind noch nicht ausreichend erforscht (vielversprechend scheint momentan die Hypothermie zu sein).
Wer an der Lektüre der Originalarbeiten interessiert ist, findet in der Anlage
• den pro/contra-Artikel (BMJ 2013),
• den neuesten Text zum potentiellen Wert der Hypothermie (Lancet Neurology 2013),
• die erwähnte Metaanalyse (Lancet 2012) sowie
• die brandneue IST-3 Studie - Lyse innerhalb von sechs Stunden, 18 Monate Nachverfolgung (Lancet Neurology 2013).
2 Die akute Cholezystitis ist nicht nur für die betroffenen Patienten eine ernste und schmerzhafte Erkrankung, sondern von der Häufigkeit auch für Hausärzte von erheblicher Relevanz: Obwohl keine absolut genauen Zahlen vorliegen, wurden im Jahre 2010 nach Angaben des statistischen Bundesamtes über 63.000 Patienten unter den ICDs K81.0 (akute Cholezystitis) und K80.0 (Cholezystolithiasis mit akuter Cholezystitis) stationär behandelt; ambulante Therapien sind hier noch nicht berücksichtigt.
Die meisten Chirurgen plädieren für eine möglichst frühzeitige Operation, um das Risiko rezidivierender Entzündungsschübe zu vermeiden. Besonders in den ersten Jahren der laparoskopischen OP-Techniken galt der umgehende Eingriff aber als kontraindiziert; etliche Patienten wurden zunächst antibiotisch behandelt und im freien Intervall operiert.
Sieht man sich die wissenschaftlichen Belege für die frühe Cholezystektomie (ChE) an, findet man keine guten Voraussetzungen für eine solide Evidenzbasis: Bei einer im Jahre 2003 veröffentlichten Metaanalyse von 12 randomisierten Studien war die Patientenzahl und die Komplikationsrate so niedrig, dass keine Schlussfolgerung möglich war.
Auch beim Blick auf die neueste Metaanalyse aus dem Jahre 2010, in der lediglich die fünf methodisch besten Untersuchungen aufgenommen wurden, fallen einige „interessante“ Details auf: Zum Beispiel betrug die Zeitdauer bis zum Beginn der frühen ChE minimal „< 4 Tage“ und maximal „< 7 Tage“; die Zahl der randomisierten Patienten erreichte im besten Fall 145, im schlechtesten gerade einmal 40.
Soeben wurde eine multizentrische, randomisierte, aber selbstredend nicht doppelblinde Studie aus Deutschland und Slowenien veröffentlicht, die unter der Leitung des Heidelberger Chirurgen Markus W. Büchler stand (die Antibiotika wurden von Bayer Vital gesponsort, das auch einigen der Autoren Zahlungen zukommen ließ).
Verglichen wurden
• die laparoskopische Operation innerhalb von 24 Stunden (ILC-Gruppe; n = 304)
• die verzögerte Therapie, bei der die Teilnehmer mindestens 48 Stunden lang mit Moxifloxazin i.v. (danach oral weiter-) behandelt und frühestens ab Tag 7 operiert wurden (DLC-Gruppe; n=314)
• 618 (von 642 gescreenten) Patienten, also deutlich mehr als alle fünf Studien der o.g. Metaanalyse zusammen, wurden randomisiert.
• Alter, Geschlecht, BMI, Cholelithiasis waren in beiden Gruppen vergleichbar; die Komorbidität (Tumoren, Diabetes, Hypertonie, Herzinsuffizienz u.a.) in der DLC-Gruppe erwartungsgemäß höher.
• Primärer Endpunkt war ein „Morbiditätscheck“ am Tag 75 (geprüft wurden u.a. Schmerz, Fieber, Entzündungsparameter, Wundheilung, Thrombosen); sekundärer Endpunkt war u.a. die Mortalitätsrate.
• Der Unterschied im Mortalitätscheck war hoch signifikant (ILC 12% vs. 33,3% DLC; p < 0,001). Die Mortalitätsrate unterschied sich hingegen nicht (jeweils ein Patient war in jeder Gruppe verstorben).
Quintessenz: Nimmt man diese Studie als Maßstab, sollte jeder Patient mit einer akuten Cholezystitis möglichst innerhalb von 24 Stunden operiert werden … wenn sein Gesundheitszustand das erlaubt. Multimorbide Patienten müssen mit deutlich höheren Komplikationsraten und einem längerem Klinikaufenthalt rechnen (Originalarbeit Ann Surg 2013).
3 Wie wir alle im Studium gelernt haben, sollen (nach dem Hippokrates zugeschriebenen Satz „Ubi Pus, ibi evacua“) Abszesse inzidiert und entleert werden. Nach vorliegenden Zahlen erscheinen Patienten mit Abszessen offenbar immer häufiger in Praxen und Kliniken. In den USA hat die Zahl der entsprechenden Besuche in Notfallstationen zwischen 1996 und 2005 von 1.2 auf 3.3 Millionen zugenommen (die Gesamtzahl der Besuche stieg hingegen deutlich langsamer an).
Auch wenn Sie das vielleicht mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis nehmen, erhalten laut Studien rund die Hälfte aller Abszess-Patienten in Notfallstationen der Vereinigten Staaten nach erfolgter chirurgischer Behandlung Antibiotika (davon 51% Trimethoprim-Sulfamethoxazol).
Muss man (ansonsten unkomplizierte) Abszesse lediglich operieren oder sind danach auch noch Antibiotika indiziert?
Eine kürzlich publizierte Metaanalyse fand in der Literatur zwar 106 Studien zu diesem Thema, davon waren aber gerade einmal vier randomisiert und plazebokontrolliert (rekrutiert: 428 Erwachsene und 161 Kinder). Die Teilnehmer wurden entweder einem Antibiotikum (Cefridin, Cefalexin, TMP-SMZ) oder einem Plazebo zugeteilt.
Nach Ablauf von mindestens 7 und maximal 10 Tagen ergaben sich keine signifikanten Vorteile einer Antibiose nach Inzision und Drainage (Originalarbeit EMJ 2013).
4 Der 27. August 2013 begann wie jeder andere Morgen auch: Frühstück und Lektüre der Tageszeitung (bei mir seit über 40 Jahren die Süddeutsche).
Das, was ich an diesem Dienstag auf der dritten Seite entdeckte, verschlug mir aber regelrecht den Atem: „Eine tödliche Entscheidung“ lautete die Überschrift und darunter stand „Darf ein Arzt, der gemordet hat, wieder Arzt werden? Die Regierung von Oberbayern sagte: Ja. Dann wurde der Mann erneut zum Mörder. Die Geschichte eines Behördenirrtums“. Autoren sind die beiden SZ-Redakteure Christopher Keil und Bastian Obermayer.
Sie müssen jetzt nicht befürchten, dass die DEGAM-Benefits zum Boulevard degenerieren werden und ich zum Anhänger der gelben Presse (die übrigens die Story mit „Doktor Mord“ betitelte...). Vielmehr wollte ich erkunden, wie es um die Lern(un)fähigkeit einer mutmaßlich mitverantwortlichen Bezirksregierung steht…
Zwei Juristen haben diesen Fall aufgearbeitet und in Buchform veröffentlicht. Heimeliger Titel „Der Arzt – dein Freund und Mörder“ (NB: Es handelt sich übrigens nicht um einen Hausarzt…). Nach der Lektüre des beigelegten Artikels (eine ganze Seite als pdf; muss wahrscheinlich am Monitor gelesen werden) vergeht Ihnen aber möglicherweise der Appetit auf das Werk.
5 Noch genau 12 Tage bis zum DEGAM-Kongress in München degam2013.de. Laut eingeweihten Kreisen soll sich die Teilnehmerzahl „bedrohlich“ der 600 nähern. Amtlich bestätigt ist hingegen, dass eine junge Kollegin als 5000. Mitglied ausgezeichnet wird und dass die Vorträge im Hofbräuhaus am Platzl stattfinden… . Freue mich, Sie alle dort zu sehen!
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
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Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
- Acute_Cholecystitis_-_Early_Versus_Delayed_Cholecystectomy__A_Multicenter_Randomized_Trial-AnnSurg2013.pdf (375,4 KiB)
- Do_risks_outweigh_benefits_in_thrombolysis_for_stroke-BMJ2013.pdf (215,1 KiB)
- Effect_of_thrombolysis_with_alteplase_within_6_h_of_acute_ischaemic_stroke_on_18-months_outcome-LancetNeurol2013.pdf (204,9 KiB)
- Eine_toedliche_Entscheidung_-_der_Arzt__Dein_Freund_und_Moerder-SZ_27-8-2013.pdf (112,5 KiB)
- Hypothermia_for_acute_ischaemic_stroke-LancetNeurol2013.pdf (155,3 KiB)
- Recombinant_tissue_plasminogen_activator_for_acute_ischaemic_stroke_-_SR-Lancet2012.pdf (359,2 KiB)
- Systemic_antibiotics_after_incision_and_drainage_of_simple_abscesses-EmergMedJ2013.pdf (205,3 KiB)
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