Perioperative Betablockade: Fatale Leitlinienempfehlung
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
1 wollen Sie wissen, welchen Patienten eine Betablockade während einer nichtkardialen Operation empfohlen wird? Dann besorgen Sie sich einfach die gültigen (2009 publizierten), frei verfügbaren europäischen und amerikanischen Leitlinien.
Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) rät dazu bei folgenden Patientengruppen:
• Personen, die eine bekannte KHK haben oder bei denen ein präoperativer Stresstest eine Myokardischämie zeigt.
• Personen, bei denen eine sog. Hochrisiko-Operation oder ein operativen Eingriff mit mittlerem Risiko geplant ist.
Die entsprechende Publikation auf der Seite der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie sieht ausschnittsweise so aus:
Der Nutzen der Betablockade, so die Leitlinien, sei eine Verminderung der Sterblichkeit. Diese Schlussfolgerung beruht im Wesentlichen auf den Studien der DECREASE-Arbeitsgruppe (DECREASE = Dutch Echocardiographic Cardiac Risk Evaluation Applying Stress Echocardiography). Leiter und Erstautor: Don Poldermans, Professor für kardiovaskuläre Forschung an der Erasmus-Universität Rotterdam.
Das Besondere an dem oben gezeigten Bildausschnitt ist, dass der Vorsitzende der Leitliniengruppe der selbe ist wie der DECREASE-Chef: Don Poldermans.
Noch pikanter wird diese Geschichte aber durch die Tatsache, dass Poldermans am 17. November 2011 wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (zu Deutsch: Betrug) gefeuert wurde www.erasmusmc.nl/corp_home/corp_news-center/2011/2011-11/ontslag.hoogleraar/. Er hatte Teile der DECREASE-Ergebnisse erfunden oder gefälscht.
Wenn Sie nun glauben, dass die entsprechenden Leitlinien der ESC oder der American Heart Association nach dieser „Klärung“ zurückgezogen worden wären…liegen Sie falsch. Sie sind bis heute – 19 Monate nachdem die Erasmus-Universität ihre internen Untersuchungsergebnisse veröffentlichte – unverändert gültig.
Gestern, am 6. August 2013, wurde von Autoren des Londoner Imperial College eine neue Metaanalyse (unter Ausschluss der DECREASE-Arbeiten) publiziert. Das Ergebnis ist erschütternd: Die präoperativ begonnene Betablockade führt nicht etwa zu einer Verminderung, sondern zu einer Erhöhung der 30-Tages-Mortalität um 27% (162 Todesfälle bei 5264 Patienten unter Betablockern versus 129 Todesfälle bei 5265 Patienten unter Placebo)! Das Resultat kam dadurch zustande, dass Myokardinfarkte zwar vermindert, aber die Rate an Schlaganfällen und Hypotension deutlich erhöht war.
Es wird inzwischen spekuliert, dass allein in Großbritannien bis zu 10.000 Patienten pro Jahr aufgrund der Leitlinienempfehlungen ums Leben gekommen sein könnten.
Die Publikation in Heart ist frei verfügbar unter heart.bmj.com/content/early/2013/07/30/heartjnl-2013-304262.abstract
2 Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat – im Rahmen der frühen Nutzenbewertung nach § 35 A des SGB V – die Frage beantwortet, ob es für die gegenwärtig in Deutschland erhältlichen Gliptine (Saxagliptin, Sitagliptin und Vildagliptin) einen Zusatznutzen gibt.
Die klare Antwort lautet: Nein.
Die Nutzenbewertungen wurden zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 für folgende Wirkstoffe/Wirkstoffkombinationen durchgeführt:
Saxagliptin (Onglyza®):
• plus Metformin
• plus Sulfonylharnstoff
• plus Insulin mit oder ohne Metformin
• plus Metformin und Sulfonylharnstoff
Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®):
• Monotherapie
• plus Metformin
• plus Sulfonylharnstoff
• plus Insulin mit oder ohne Metformin
• plus Metformin und Sulfonylharnstoff
Vildagliptin (Galvus®, Jalra®, Xiliarx®):
• Monotherapie
• plus Metformin
• plus Sulfonylharnstoff
• plus Insulin mit oder ohne Metformin
• plus Metformin und Sulfonylharnstoff
Details können Sie auf der entsprechenden Internetseite der AkdÄ einsehen www.akdae.de/Service/Newsletter/Archiv/News/Archiv/2013-15.html
3 Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hat (anhand eines Reviews publizierter Studien, Metaanalysen und Nebenwirkungsberichten) das Nutzen-Schaden-Verhältnis von Metoclopramid (MCP) neu überprüft. Dabei wurden insbesondere extrapyramidale Symptome betrachtet (akut: Muskelspasmen z.B. im Kopf- und Halsbereich - oft bei Kindern; nach längerer Anwendung: Tardive Dyskinesien = unkontrollierbare Zuckungen und Grimassen - meist bei Älteren).
Die wichtigsten Beschlüsse bzw. Empfehlungen der EMA für Erwachsene:
• Metoclopramid sollte nur noch für maximal fünf Tage verordnet werden, um das Risiko neurologischer und anderer Nebenwirkungen zu minimieren.
• MCP sollte bei chronischen Erkrankungen wie z.B. Gastroparese, Dyspepsie oder gastroösophagealer Refluxkrankheit bzw. als ergänzende Therapie bei chirurgischen oder radiologischen Prozeduren grundsätzlich nicht mehr gegeben werden.
• Unverändert bleiben die folgenden Indikationen bei Erwachsenen:
► zur Prävention von postoperativer Übelkeit/Erbrechen und verzögerter (aber nicht akuter) Übelkeit nach Chemotherapie sowie
► zur symptomatischen Behandlung von Übelkeit/Erbrechen im Rahmen eines akuten Migräneanfalls (verbessert insbesondere die Resorption von oralen Analgetika).
• Lösungen mit mehr als 1mg/ml, intravenöse Applikationsformen mit einer Konzentration über 5mg/ml und Suppositorien mit 20mg werden vom Markt genommen.
• Die tägliche Maximaldosis beträgt für Erwachsene 0,5 mg/kg Körpergewicht, die übliche Tagesdosis für alle Applikationen 3x10mg (> 10mg ED bringt keine bessere Wirkung).
• Die intravenöse Applikation sollte zur Verminderung der seltenen kardiovaskulären Nebenwirkungen (Hypotension, Schock, Synkope, Bradykardie, AV-Block, Herzstillstand) nur als langsame Injektion über mindestens 3 Minuten erfolgen. Besondere Vorsicht mit intervenöser Gabe ist bei älteren Personen, Patienten mit Herzrhythmusstörungen und/oder Elektrolytstörungen und bei Einnahme QT-verlängernder Medikamente angezeigt.
• Bei Patienten, die auf MCP eingestellt sind, sollte die Medikation bei der nächsten Routinekontrolle (also nicht sofort/überstürzt) überprüft werden.
Den vollständigen Text können Sie unter tinyurl.com/nwox3d9 einsehen (dort stehen auch die Empfehlungen für Kinder, bei denen extrapyramidale Nebenwirkungen bis zu sechsmal häufiger auftreten als bei Erwachsenen).
4 Viele von Ihnen kennen noch den renommierten Fernsehjournalisten Dagobert Lindlau. Der 82-jährige trägt seit einem Herzinfarkt vor sechs Jahren einen implantierbaren Kardioverter/Defibrillator (ICD) der Firma Medtronic.
Auf deren Webseite www.medtronic.de/therapien/defibrillatoren-implantierbare/index.htm heißt es wörtlich: „Ein implantierbarer Defibrillator, auch ICD (von implantierbarer Cardioverter Defibrillator) oder umgangssprachlich kurz Defi genannt, behandelt schnelle Herzrhythmusstörungen, die sogenannte Tachykardie. Ein implantierbarer Defibrillator überwacht Ihr Herz Schlag für Schlag, um im Notfall effektiv vor dem plötzlichen Herztod zu schützen, der die Folge einer Tachykardie sein kann“. Ein wohlklingender Spruch, der mit der Realität der Modellreihe „Fidelis“ offenbar wenig zu tun hat.
Wie Ekkehard Müller-Jentsch, Redakteur der Süddeutschen Zeitung berichtet, hat Lindlau einen Prozess gegen den Hersteller angestrengt, weil es durch Schäden an der Isolierung der betreffenden Serie zu einer – tödlichen - Fehlfunktion kommen kann. In den USA, in denen Medtronic das Gerät bereits 2007 vom Markt genommen hat, erhielten betroffene Patienten 268 Millionen USD. Hierzulande müssen Patienten gerichtlich um ihr Recht streiten.
Eine Explantation des Gerätes, laut Medtronic „schlicht möglich“, halten sowohl die behandelnden Ärzte als auch die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie für zu gefährlich. Lindlau hat im Oktober 2011 entschieden, den ICD abzuschalten. Zitat: „Lieber das Risiko eines plötzlichen Herztodes als das Risiko eines tödlichen Elektroschocks“.
In Deutschland werden Medizinprodukte (dazu gehören u.a. auch Hüft-Endoprothesen, Silikonpolster zur Brustimplantation …) lediglich technisch geprüft, aber die Verwendung nicht kontrolliert. Die Hersteller müssen nur eine freiwillige Selbsterklärung abgeben, um ihre Produkte in den Verkehr zu bringen. Das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kann lediglich Kontakt mit dem Hersteller aufnehmen und Empfehlungen aussprechen – ein andauernder Skandal auf Kosten der Patientengesundheit.
5 Das oft zitierte höhere Risiko eines zerebralen Insultes bei Patienten mit offenem Foramen ovale (PFO) stammt aus kleineren Fall-Kontroll-Studien, in denen Patienten mit Schlaganfällen unklarer Genese (sog. cryptogenic stroke) verglichen wurden mit solchen, die an Schlaganfällen identifizierbarer Genese litten. Bei der ersteren Gruppe wird signifikant häufiger ein PFO gefunden.
Das Vorkommen eines PFO in der Allgemeinbevölkerung soll bei ca. 25% liegen, im Alter abnehmen und bei Frauen und Männern gleich verteilt sein. Diese Daten stammen vorwiegend aus einer Autopsiestudie (n=965) in Olmstedt County/USA.
Zur Frage, ob gesunde Personen mit PFO - prospektiv untersucht – ebenfalls ein erhöhtes Schlaganfallrisiko haben, gibt es bislang nur zwei Untersuchungen. Dabei handelt es sich um
• eine randomisierte Bevölkerungsauswahl (n=585; Alter > 45 J; Nachverfolgung 5 Jahre), ebenfalls aus Olmstedt County sowie
• eine soeben publizierte, randomisierte Stichprobe aus einer multiethnischen Bevölkerung in New York (n=1100; Alter > 39 J; Nachverfolgungszeit 11 Jahre)
Aus keiner dieser Untersuchungen konnte ein erhöhtes Insultrisiko abgeleitet werden. Ein offenes Foramen ovale scheint also nach den bisherigen Erkenntnissen offenbar kein Risikofaktor für eine zerebrale Ischämie zu sein.
NB: Bei Patienten mit cryptogenic stroke und PFO sollte zur Sekundärprophylaxe eines weiteren Schlaganfalls ASS gegeben werden (drei randomisiert-kontrollierte Studien haben inzwischen nachgewiesen, dass der operative Verschluss eines PFO nicht besser ist als die konservative Behandlung).
Die neue Arbeit aus New York findet sich im Anhang (J Am Coll Cardiol 2013).
6 Obwohl die momentanen Sommertemperaturen nicht an den Herbst oder Winter denken lassen, werden bereits die ersten Grippeimpfstoffe für die Saison 2013/2014 zugelassen. Und wie in jedem Jahr dürften auch diesmal wieder die Fragen zur Wirksamkeit der Influenzavakzine auftauchen.
Ob eine Grippeimpfung von ärztlichem und Pflegepersonal (HCW = health care workers) eine Ansteckung der betreuten Patienten verhindern oder verringern kann, ist bislang wissenschaftlich nicht eindeutig belegt.
Zum Thema dieser sog. Riegelungsimpfung erschien in der Cochrane Library soeben eine Metaanalyse von drei Autoren aus Calgary/Kanada, Rom und London. Sie identifizierten
• über einen Zeitraum von bis zu 47 Jahren
• aus allen bekannten Datenbanken
• Arbeiten, die klären sollten, ob die Impfung von HCW die Inzidenz von Influenza und ihrer Komplikationen bei Patienten über 60 Jahren in Altenheimen vermindern kann.
Aus den vier clusterrandomisierten Studien (c-RCTs) mit 7.558 Patienten und einer Kohortenstudie mit 12.742 Patienten wurden drei c-RCTs ausgewählt (5.896 Patienten), die den strikten Auswahlkriterien entsprachen (aber immer noch erhebliche methodische Probleme aufwiesen).
Eine Wirksamkeit der Impfung von HCW auf laborchemisch bewiesene Influenzainfektionen oder deren Komplikationen (Pneumonien, Krankenhauseinweisungen, pneumoniebedingte Todesfälle) bei Altenheimpatienten über 60 Jahren konnte nicht nachgewiesen werden.
Leider fanden sich in den Studien keine Informationen zu anderen potentiell wirksamen Interventionen (wie z.B. Händewaschen, Gesichtsmasken, Quarantäne, Aufnahmestopp der Heime, antivirale Therapie oder Fernbleiben der HCW vom Arbeitsplatz).
DEGAM-Mitglieder haben mit Nutzernamen und Passwort (wird zu Beginn der Mitgliedschaft versandt) freien Zugang zur Cochrane Library. Da Sie aber vielleicht an Ihrem Urlaubsort sind … hänge ich die Arbeit an (Cochrane Review 7-2013).
Herzliche Grüße
und noch eine angenehme Sommerzeit
Michael M. Kochen
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Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
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