Schlaf, Kindlein, schlaf...

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

1 Sie alle kennen das (bereits im Jahre 1611 veröffentlichte) Wiegenlied „Schlaf, Kindlein, schlaf“. Laut Wikipedia beschreibt es den kleinen Hörern „eine heile Welt und verspricht einen ruhigen Schlaf, da in der [kindlichen] Umwelt alles in Ordnung sei“.

Schlaf kann aber auch eine unheile Welt beschreiben, wenn er als unkontrollierbarer Impuls zu Unzeiten auftritt. Dies scheint bei etlichen britischen und finnischen Kindern der Fall zu sein, die während der Grippesaison 2009/2010 mit der adjuvantierten Vakzine „Pandemic A/H1N1 2009“ (Pandemrix®) geimpft wurden.

Britische Wissenschaftler haben in einer vor kurzem publizierten Analyse eine als kausal eingestufte Beziehung zwischen der Verabreichung des Impfstoffs gegen die Schweinegrippe und dem Auftreten einer Narkolepsie festgestellt. Bei der Narkolepsie handelt es sich um eine chronische Krankheit mit exzessiver Tagesmüdigkeit, die häufig von einer Kataplexie begleitet ist (temporärer Verlust des Muskeltonus, ausgelöst durch starke Emotionen).

In der aufwendigen Untersuchung erfolgte eine Auswertung von Daten aus

  • sämtlichen schlafmedizinischen Abteilungen des Landes,
  • allen kinderneurologischen Zentren,
  • der zentralen Datenbank englischer Krankenhäuser,
  • der Datenbank des Royal College of General Practitioners (RCGP) sowie
  • 98 repräsentativen Hausarztpraxen, die wöchentliche Berichte an das Forschungszentrum des RCGP schickten.

Demnach betrug die Impfquote im August 2010 bei den Zwei- bis Vierjährigen 27,3%, bei den Fünf- bis Achtzehnjährigen 4,3 %.

  • Es wurden 75 Fälle von definitiver Narkolepsie bei Kindern und Jugendlichen zwischen 4 und 18 Jahren festgestellt, was einem Fall auf 52.000 Dosen entsprach (odds ratio 14.4 [95% Konfidenzintervall 4.3 – 48.5])
  • Mit anderen Worten: Das Risiko einer Narkolepsie war für Impflinge in dieser Altersgruppe rund 14 Mal höher als für ungeimpfte Personen.

Die Gesundheitsbehörden in Finnland hatten bereits im August 2010 die Verabreichung der Impfung untersagt, nachdem in der Altersgruppe 4-19 Jahre (Impfquote 75%) ebenfalls ein erhöhtes Narkolepsierisiko festgestellt wurde. Dort betrug die Inzidenz bei den Geimpften 9,0/100.000 Personenjahre, bei den Ungeimpften 0,7 (rate ratio 12,7).

Die britische Studie (BMJ 2013) können Sie hier, die finnische (PLoS One 2012) hier  herunterladen

NB: Sie erinnern sich vielleicht, dass die DEGAM 2009/2010 zum Umgang mit der sog. Schweinegrippe eine S1-Leitlinie herausgab, die der behördlicherseits dringend empfohlenen Impfung der Bevölkerung äußerst skeptisch gegenüberstand. Wer an einem Ausflug in unsere jüngere Geschichte interessiert ist, findet die Leitlinie und den damaligen Impfflyer für Patienten in der Anlage.

2 Zum Thema passt eine Metaanalyse amerikanischer Autoren zur Wirksamkeit des Grippemittels Oseltamivir (Tamiflu®) bei Erwachsenen. Ausgewertet wurden alle in Medline publizierten sowie in Studienregistern von Herstellerfirmen befindlichen, aber nicht publizierten RCTs (randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblind-Studien). Für den Einschluss mussten die Studien folgende Angaben enthalten:

  • Dauer der Symptome
  • Komplikationshäufigkeit sowie
  • Zahl der Krankenhauseinweisungen

Es fanden sich drei veröffentlichte und immerhin acht unpublizierte Untersuchungen, welche diese Kriterien erfüllten.

Die Details der Arbeit können Sie in der angehängten Originalarbeit finden. Ich übersetze an dieser Stelle lediglich die Schlussfolgerungen, die sich auf die intention-to-treat-Population beziehen (bei dieser Datenanalyse muss jeder randomisierte Patient auch in die Endauswertung eingehen und zwar in der ursprünglich zugeteilten Behandlungsgruppe): „Es gibt keine Evidenz, dass Oseltamivir die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhausaufnahme, einer Pneumonie oder den kombinierten Endpunkt aus Pneumonie, Otitis media und Sinusitis vermindert“ (Originalarbeit Fam Pract 2013)

3 In Ihrer Praxis stellt sich eine neue normalgewichtige Patientin vor. Sie ist 63 Jahre alt und klagt seit einigen Wochen über wiederkehrende Schmerzen in der linken Schulter, die besonders bei körperlichen Anstrengungen auftreten und gelegentlich bis zum Unterkiefer ausstrahlen. Ein vorausgehendes Trauma wird verneint.

Angesichts oft untypischer Beschwerden bei Frauen denken Sie u.a. auch an eine koronare Herzkrankheit. Die Patientin ist allerdings Nichtraucherin und in der Anamnese tauchen weder ein erhöhter Blutdruck noch eine diabetische Stoffwechsellage auf. Die Eltern und zwei ältere Geschwister sind gesund, die Großeltern in hochbetagtem Alter verstorben.

Die weitere Vorgeschichte ist unauffällig – bis auf ein schwerwiegendes Ereignis vor rund drei Jahren. Damals erkrankte die Patientin an einem linksseitigen Mammakarzinom, das chirurgisch (Lumpektomie), strahlen- und chemotherapeutisch behandelt wurde. Bisherige Nachkontrollen hätten keinen Hinweis auf ein Rezidiv ergeben.

Die Beschwerden dieser Frau sind nicht nur per se verdächtig; die Patientin weist auch einen gravierenden koronaren Risikofaktor auf: Die Strahlentherapie.

Die Assoziation zwischen Strahlentherapie und koronarer Herzkrankheit tauchte erstmals 1994 in einer Studie auf, in der die Todesursachen von langzeitüberlebenden Frauen nach Brustkrebs untersucht wurden. Obwohl die therapeutische Strahlendosis in der letzten Dekade immer weiter absank, beträgt die kardiale Exposition von Frauen mit radioonkologisch therapiertem Mammakarzinom auch heute noch zwischen einem und fünf Gray. Unklar waren bislang die Dosis-Wirkungsbeziehung, die notwendige Zeitdauer bis zum Beginn der Symptomatik nach Bestrahlungsende und der Einfluss anderer kardialer Risikofaktoren.

Britische, dänische und schwedische Wissenschaftler haben jetzt eine Fall-Kontroll-Studie mit insgesamt 2.168 Frauen publiziert, die sich zwischen 1958 und 2001 einer Strahlentherapie wegen Brustkrebs unterzogen: 968 dieser Patientinnen hatten ein koronares Ereignis erlitten, 1205 dienten als Kontrollen. 54% der Frauen waren zum Zeitpunkt der Erhebung bereits an ihrer koronaren Herzkrankheit verstorben.

Negative Prognosefaktoren waren

  • diabetische Stoffwechsellage,
  • Rauchen
  • COPD
  • Übergewicht (BMI <30)
  • ein positiver Lymphknotennachweis
  • die linke (versus die rechte) Seite
  • die Höhe der Strahlendosis (s. nächste Abbildung)

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   und insbesondere die ersten Jahre nach der Bestrahlung (s. folgende Grafik)

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Ein begleitendes Editorial weist auf weitere (hier nicht behandelte) Risiken einer radioonkologischen Behandlung im Brustbereich hin, wie z.B. Perikarderkrankungen, Kardiomyopathien oder Arrhythmien

Quintessenz: Frauen, die wegen eines Mammakarzinoms bestrahlt wurden, sollten

  • in Bezug auf oft untypische, aber KHK-verdächtige Beschwerden, besonders aufmerksam beobachtet und
  • klassische Risikofaktoren – falls irgend möglich - energisch beeinflusst werden.

Die Originalarbeit aus dem New England Journal of Medicine 2013 finden Sie im Anhang.

4 Obwohl die direkte Bewerbung verschreibungspflichtiger Arzneimittel für Laien, für die sich die Abkürzung DTCA eingebürgert hat (Direct-To-Consumer Advertising), weltweit nur in den USA und in Neuseeland legal ist, wird das Verbot immer wieder unterlaufen. Ein bekanntes Beispiel ist die als „Aufklärungskampagne“ getarnte Print- und TV-Werbung von Pfizer für Viagra, das zwar nie beim Namen genannt wird, aber stets als hellblaue Raute sichtbar ist.

Der Arzneimittelbrief beschreibt in seiner neuesten Ausgabe eine unverfrorene Aktion, mit welcher der österreichische Verband der Impfstoffhersteller die Pneumokokkenimpfung im nationalen Rundfunk (ORF) bewirbt - mit Unterstützung von Pfizer, Sanofi-Pasteur MSD und unter Nutzung der Logos von Ärzte- und Apothekerkammer. Dabei werden gezielt Ängste geschürt (nach dem Motto: Abwehrkraft sinkt ab 50 Jahren, die Erreger lauern überall, werden durch Husten und Nießen übertragen und können zu Gehirnhautentzündung, Pneumonie und Sepsis bis zum Tode führen).

Begleitet wird die „Informationskampagne“ von der neuen (und weltweit einzigartigen Empfehlung) im österreichischen Impfplan 2013, den 13-valenten Konjugatimpfstoff bereits ab dem 51. Lebensjahr zu verabreichen. Gleichzeitig wurde die Vakzine bis Ende Februar 2013 in allen Apotheken des Landes zu vergünstigten Preisen abgegeben.

Der Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber des AMB angehängt.

5 Wohl alle Leser/innen erinnern sich noch lebhaft an die Diskussion innerhalb der Katholischen Bischofskonferenz um die „Pille danach“. Trotz häufig falscher Darstellung der Wirkungsweise in den Medien, liegt es mir fern, dieses Thema wieder aufzunehmen. Es sei lediglich daran erinnert, dass zwar viele EU-Länder inkl. Frankreich, Österreich und der Schweiz, die entsprechende Verschreibungspflicht aufgehoben haben – nicht aber Deutschland.

Ende Februar hat nun die Mehrheit der Parlamentarier im „Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren“ des Baden-Württembergischen Landtags beschlossen, einem Antrag der Regierungsfraktionen zu folgen und sich auch unter den anderen Bundesländern für die Aufhebung der Verschreibungspflicht einzusetzen. Dazu soll in Kürze eine Bundesratsinitiative eingebracht werden.

6 Zum Schluss zeige ich Ihnen drei „klinische“ Bilder.

Im ersten Bild sehen Sie die Fußsohle eines 30-jährigen Mannes. Er stellte sich 13 Monate nach einem Ferienaufenthalt in Kolumbien wegen schmerzlosen Juckreizes an ebendieser Stelle und des Gefühls, dass „sich etwas unter der Haut bewege“ in einer internistisch-hausärztlichen Praxis in St. Moritz vor.

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Die Lektüre des kurzen Artikels im Schweizer medizinischen Forum (http://tinyurl.com/anh7ccm) erfreut durch seine Kürze und der Feststellung, dass „aufgrund der typischen Anamnese und Klinik ohne weitere Abklärungen“ die Diagnose Larva migrans cutanea gestellt wurde und der Patient nach einer Einmaldosis Albendazol 400mg vollständig genesen war.

Das zweite Bild aus dem New England Journal of Medicine zeigt die Halsregion eines 64-jährigen Mannes, der sich mit einer sechsmonatigen Vorgeschichte von Oberbauchbeschwerden, Gewichtsverlust und Übelkeit in einem Krankenhaus im brasilianischen Sao Paulo einfand. Die gut sichtbare Veränderung in der linken Supraklaviculargrube ist nach einem berühmten deutschen Pathologen und Sozialmediziner benannt.

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Gastroskopie und CT des Abdomens ergaben die Diagnose eines metastasierten Magenkarzinoms (http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMicm1204740).

Das dritte Bild aus der Schweizer Primary Care zeigt den Finger eines 67-jährigen Mannes, der vor seinem Nikotinentzug 40 Zigaretten pro Tag geraucht hatte.

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Die Tabakentwöhnung hat dazu geführt, dass der basale Teil des Fingernagels bereits ohne die typische gelbliche Verfärbung nachwächst, während der distale Teil noch die Nikotinablagerungen aus Raucherzeiten aufweist (http://www.primary-care.ch/schweizerische-zeitschrift-fuer-hausarztmedizin/; Ausgabe Nr. 6/2013)

Herzliche Grüße
Michael M. Kochen


Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Ludwigstr. 37
79104 Freiburg/Germany
Tel. +49-761-151 35 66
Fax +49-761-151 35 67

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