Screening auf „Prä-Demenz“. Dafür spricht: … Nichts!

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

1        während die Medien zunehmend häufiger die Themen Demenz und Alzheimer-Erkrankung thematisieren (zuletzt am vergangenen Montag in der ARD mit dem Fernsehfilm „Stiller Abschied“ und der nachfolgenden Talkshow „Hart aber fair“; www.ardmediathek.de), läuft in vielen westlichen Industriestaaten eine Kampagne mit dem Ziel,

•    ein bevölkerungsweites Screening auf die sog. „Prä-Demenz“ bzw. milde kognitive Störung (englisch: mild cognitive impairment; MCI)

•    oder zumindest ein „Herausfischen“ (opportunistic case finding) betroffener Patienten durchzusetzen.

Die britische Regierung hat angekündigt, jedem Hausarzt jährlich 4.200 € zu zahlen, wenn er aus seiner Praxisklientel alle Patienten über 75 Jahre (bzw. über 60 Jahre, wenn sie eine manifeste Arteriosklerose oder einen Diabetes mellitus aufweisen) auf Demenz oder MCI untersucht. Zudem wurde die Losung ausgegeben „für jede Stadt eine Gedächtnisambulanz“. Dieser Regierungsplan ist u.a. das Ergebnis der erfolgreichen Lobbyarbeit einer sog. Denkfabrik/Ideenschmiede (think tank) namens Social Market Foundation www.smf.co.uk/media/news/think-tank-calls-for-financial-rewards-for-increased-dementia-di/, bei der sich gewisse Parallelen zur Bertelsmann-Stiftung aufdrängen.

Eine kürzlich erschienene Analyse australischer Hausärzte bzw. Wissenschaftler weist hingegen in aller Deutlichkeit darauf hin, dass es

• weder für dieses Screening noch für den Nutzen von Gedächtnisambulanzen belastbare wissenschaftliche Belege gibt

• und dass die heute verfügbaren Arzneimittel gegen milde kognitive Störungen genauso wenig wirksam sind, wie sie ein Fortschreiten zur Demenz verhindern können.

Aber der Reihe nach.

Nach aktuellen epidemiologischen Erkenntnissen beträgt die Prävalenz einer Demenz bei über 80-jährigen zwischen 10 und 30%. Das gerade in Kraft getretene, psychiatrische Diagnostikmanual DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), sieht vor, asymptomatischen Personen, die auf Testbatterien geringfügig abnormal reagieren (eine Standardabweichung unter der Norm), das Label „präsymptomatische Alzheimererkrankung bzw. Demenz“ anzuhängen. Das dürfte dazu führen, dass in dieser Altersgruppe die Prävalenz einer dementiellen Erkrankung auf bis zu 65% ansteigt, aber auch rund 23% klinisch unauffällige ältere Personen die Diagnose Demenz erhalten. In der Gesamtbevölkerung erhielten rund 16% den Stempel „milde kognitive Störung“. Dass diese ungerechtfertigte und unnütze Kategorisierung die Betroffenen ängstigt und in diversen Lebensbereichen (Versicherung, Arbeitsplatz, Freundeskreis…) schädigt, liegt auf der Hand. Da brechen schöne neue Zeiten an…

Die Verfechter eines Bevölkerungsscreenings (und ihre Sponsoren aus der pharmazeutischen Industrie) möchten glauben machen, dass der manifesten Demenz eine frühzeitige MCI vorausgeht und dass man diese Frühform wirksam behandeln kann.

Bei rund 5-10% aller Betroffenen schreitet die milde kognitive Störung zur Demenz fort – aber bei 40–70% tut sie das nicht oder wird sogar klinisch besser. Umgekehrt wiesen viele Demenzkranke vor der Diagnose keinerlei Zeichen einer milden kognitiven Störung auf. Mit aktuell verfügbaren Methoden lässt sich nicht zuverlässig vorhersagen, welche Personen mit MCI an Demenz erkranken werden – weder mit Bildgebung, noch mit Biomarkern im Liquor.

Es ist auch nicht belegt, dass eine frühzeitige Diagnose von MCI oder Demenz es den Betroffenen besser erlauben würde, ihre finanziellen Angelegenheiten zu regeln oder Lebenstilfaktoren zu verändern.

Und letztlich gibt es – unabhängig von der fehlenden Vorhersagemöglichkeit, wer dement wird und wer nicht - keine Medikamente, die eine symptomatische Verbesserung einer milden kognitiven Störung erreichen könnten. Dies zeigt eine gerade publizierte Metaanalyse kanadischer Autoren aus Toronto und Calgary. Sie untersuchten die Wirkung von Cholinesterasehemmern und Memantine in acht randomisierten Studien und drei Begleitberichten und bestätigen damit die negativen Ergebnisse von bislang zwei Cochrane-Arbeiten, zuletzt aus dem Jahre 2012.

Die australische Analyse mit vielen Literaturhinweisen (BMJ 2013) und die systematische Übersichtsarbeit aus Kanada (CMAJ 2013) hängen dieser Nachricht an.

2        Mir ist natürlich nicht genau bekannt, welche Erinnerungen Sie an Ihr Studium und Ihre Weiterbildungszeit haben. Ich auf jeden Fall habe noch gelernt, dass gelbes Sputum bei akuter wie chronischer Bronchitis Zeichen einer bakteriellen Entzündung ist und eine Antibiose erwogen werden sollte. Falsch, ich weiß… Dass u.a. die Sputumfarbe aber auch heute noch ein (ärztlich-mentales?) Problem bei Patienten mit überwiegend viral verursachter akuter Bronchitis ist, zeigen die Daten auch aus den Ländern, in denen Kollegen üblicherweise eher Zurückhaltung in Sachen Antibiotikatherapie üben.

Spanische Wissenschaftler haben im British Medical Journal eine (allerdings einfach-blinde) Studie veröffentlicht, in der 416 hausärztliche Patienten u.a. mit Husten seit weniger als einer Woche und gelblichem Auswurf (aber ohne pulmologische Vorerkrankung) in folgende Gruppen randomisiert wurden:

•    Ibuprofen 3x600mg (n=136)
•    Amoxicillin-Clavulansäure 3x500/125mg (n=137)
•    Placebo (n=143)

Klinischer Endpunkt war neben einem Symptomenscore die Anzahl der Tage mit häufigem Husten; weitere Vorstellungen in der Praxis erfolgten an den Tagen 2-4 und 11-13.

Über das Ergebnis braucht man nicht viel zu sagen:

Die Mittelwerte zwischen Plazebo und Antibiotikum (11 Tage) und Ibuprofen (9 Tage) unterschieden sich nicht signifikant.

Solche und ähnliche Belege für die Unwirksamkeit von Antibiotika oder auch Entzündungshemmern bei überwiegend selbstheilenden Infekten scheinen aber über die Jahre das ärztliche Verordnungsverhalten kaum zu ändern. Diverse Interventionsmaßnahmen sind durchaus wirksam – aber nur, solange die Anwendung dauerhaft fortgesetzt wird. Endet sie aber, kehrt das alte Schema wieder zurück. Vielleicht hat ja jemand aus der Leserschaft der Benefits eine zündende Idee, wie man effektiv, langwirksam und kostengünstig diesen Automatismus verändern kann…?

Die Originalarbeit aus dem BMJ (2013) liegt an.

3        Die meisten Patienten mit Karpaltunnel-Syndrom (CTS) landen nach erfolglosen konservativen Therapieversuchen (meist Handgelenksschiene) beim Chirurgen.  Wie eine kürzliche Doppelblindstudie aus Schweden zeigt, ändert daran auch die lokale Injektion von Methylprednisolon nur wenig.

In der Untersuchung erhielten 37 Patienten 80 mg und 37 Patienten 40 mg Methylprednisolon sowie ebenfalls 37 Patienten Plazebo. Nach zehn Wochen wiesen die beiden Interventionsgruppen eine signifikante Besserung der Symptomatik auf (80mg wirkte stärker als 40mg). Leider verschwanden die Wirkungsunterschiede nach einem Jahr: Bis zu diesem Zeitpunkt lagen bereits 3 von 4 Patienten unter dem Messer (Originalarbeit Ann Intern Med 2013)

4        Mehr als bei CTS bringen Corticoide bei akuten Exazerbationen einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (die Exazerbationshäufigkeit kann die Sterblichkeit der betroffenen Patienten erhöhen!).

Gemäß Leitlinienempfehlung soll die Dauer einer solchen systemischen Behandlung zwischen 7 und 14 Tagen liegen. So lange scheint nicht nötig zu sein, wie eine Schweizer Studie zeigt. Randomisiert wurden insgesamt 314 Patienten aus Notfallambulanzen, die entweder 5 oder 14 Tage lang 40 mg Prednison erhielten. Klinischer Endpunkt war die Zeit bis zur nächsten Exazerbation innerhalb von sechs Monaten. Die kürzere war der längeren Therapiedauer nicht unterlegen (Originalarbeit JAMA 2013).

5        Wenn sich Politiker nach Ende ihrer Karriere als Berater eines Unternehmens verdingen, sprechen nicht wenige Angehörige dieses Berufes vom „fruchtbaren Austausch zwischen Politik und Wirtschaft“. Bei solchen Sprüchen fallen mir üblicherweise Namen wie Martin Bangemann oder Günther Verheugen ein, um nur einige wenige zu nennen.

Kurt Beck war 18 Jahre lang „Landesvater“ von Rheinland-Pfalz und trat im Januar 2013 aus (wie es offiziell hieß) gesundheitlichen Gründen von seinem Amt zurück.

Wie das aber so ist mit den gesundheitlichen Gründen, die verbleibende Kraft reicht oft noch für durchaus lukrative Jobs. So leitet Beck nicht nur die Friedrich-Ebert-Stiftung, sondern sitzt auch noch dem Verwaltungsrat des ZDF vor. Das alleine füllt den Mann aber offensichtlich nicht ganz aus: Er berät nun auch die Firma Boehringer-Ingelheim … in strategischen Angelegenheiten, wie Susanne Höll von der  Süddeutschen Zeitung vernahm. Nun weisen ihn seine Erfahrungen in der sog. Nürburgaffäre oder der Pleite am Flughafen Hahn, die bei seinem Rücktritt selbstverständlich keine Rolle spielten, als profunden Wirtschaftsfachmann aus…

Die Karenzzeit zwischen dem Ausscheiden als Ministerpräsident und der Aufnahme des Beraterjobs betrug exakt sechs Monate. Für Bundesminister fordert seine Partei 18 Monate Wartezeit, aber ein Ministerpräsident ist ja doch was ganz anderes, versteht sich…

6        An was würden Sie denken, wenn Sie einen Patienten Mitte Zwanzig vor sich sehen, der beim Arbeiten mit Handschuhen „irgendetwas“ am vierten Finger der rechten Hand, jedoch keinen Schmerz oder gar einen Biss fühlte? Der hier gezeigte Mann schüttelte beide Handschuhe aus, zerquetschte das, was da herauskam und arbeitete weiter. Nach zwei Stunden sah sein 4. Finger dunkel-violett, wie nach einer starken Kontusion aus:

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Und hier ein Bild des Zerquetschten, das der Mann gleich mitbrachte:

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Zur Verdeutlichung hier noch eine größere Aufnahme eines unversehrten Exemplars:

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Ein Tausendfüßler hatte sich in den Handschuh des Mannes verkrochen. Wenn sich diese Spezies angegriffen fühlt, sezerniert sie diverse Stoffe wie Chinone, Aldehyde oder Wasserstoffcyanide, welche die Färbung der Haut verursachen. Die meisten Fälle gehen nach Händewaschen spontan zurück, bei Schwellung oder Juckreiz hilft eine Steroidcreme. In die Nähe eines Auges sollte solch ein Tier allerdings besser nicht gelangen… (Originalarbeit EMJ 2013).

7        Schon mal einen Menschen mit sechstem Finger gesehen?

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Dieses „akzessorische Fingerglied“ manifestiert sich oft schon bei Geburt und zwar meist auf der ulnaren Seite der Hand. Dahinter kann sich ein komplettes Fingerskelett oder auch nur ein Teil davon verbergen; eine familiäre Vorgeschichte ist nicht selten. Therapie: Chirurgische Entfernung in Lokalanästhesie (BMJ 2013;347:f5696).

Herzliche Grüße
Michael M. Kochen

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