Wie „billig“ sind Generika in Deutschland?

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen

1       vielleicht haben einige von Ihnen in die die neueste Ausgabe des jährlich erscheinenden Arzneiverordnungsreports hineingeschaut (nicht durchgelesen, das wäre bei diesem 1.134 Seiten umfassenden Werk auch eine Herausforderung). In der aktuellen Ausgabe werden jeweils die Verordnungszahlen und Kosten, sowie die wichtigsten Entwicklungen des Vorjahres analysiert (in der Ausgabe 2019 erscheinen also die Daten von 2018).

Gegenüber dem Vorjahr 2017 stiegen die Ausgaben erneut um 3,2 % auf gut 41 Mrd. €. Das sind nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums 17,2 % der Leistungsausgaben der GKV von insgesamt knapp 240 Mrd. €.

Die folgende Grafik zeigt, dass den steigenden Kosten stagnierende Verordnungszahlen (insbesondere in den letzten fünf Jahren) gegenüberstehen.

Patentarzneimittel machen zwar nur einen Anteil von 6.6% am Gesamtvolumen der verordneten Tagesdosen, jedoch mit fast 20 Mrd. € 46 % der Kosten aus. Damit sind sie im Durchschnitt 12,5-mal so teuer wie Nicht-Patentarzneimittel (Generika). Letztere verursachen mit fast 36 Mrd. DDD (87%) „nur“ 22 Mrd. € an Kosten.

[NB: Ein Interview im Spiegel von Veronika Hackenbroch mit einem der Herausgeber des AVR, Prof. Ulrich Schwabe (emeritierter Pharmakologe der Universität Heidelberg) trägt den Titel "Die Hersteller können Fantasiepreise nehmen - einige wenige Medikamente verschlingen einen Großteil der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen. Der Herausgeber des Arzneiverordnungsreports, Ulrich Schwabe, erklärt die skandalösen Tricks der Pharmafirmen"

https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/pharmakologe-ulrich-schwabe-im-interview-die-hersteller-koennen-fantasiepreise-nehmen-a-1288297-druck.html].

Wer dieses Zahlenwerk in einen größeren, internationalen Kostenzusammenhang einordnen möchte, kann das unter https://www.medbelle.com/medicine-price-index-usa tun.

  • Dort werden beispielhaft 13 Arzneisubstanzen aus verschiedenen Indikationsgruppen gelistet (Sildenafil, Pregabalin, Atorvastatin, Salbutamol, Azithromycin, Insulin Glargin, Tacrolimus, Drospirenon/Ethinylöstradiol, Fluoxetine, Alprazolam, Lisinopril, Tenofovir und Adalimumab).
  • Neben einer schon grafisch eindrucksvollen Gesamtübersicht, lassen sich die Daten aller aufgeführten Substanzen einzeln aufrufen, wie folgender Screenshot zeigt

  • Unter den aufgelisteten 50 Ländern steht Deutschland bei den Originalpräparaten mit einer Kostenabweichung vom globalen Mittel von +105% auf dem zweiten Platz hinter den USA.
  • Bei den Generika beträgt die Überschreitung hingegen sage und schreibe +855,53%, womit Deutschland („Weltmeister bei den Generikaverordnungen“) auf Platz 3 liegt - hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten und Spanien. Die in dieser Hinsicht am besten abschneidenden europäischen Länder sind Portugal und Bulgarien.
  • Nimmt man nur Europa als Vergleichsmaßstab für alle durchschnittlichen Arzneimittelpreise (Originalpräparate und Generika), liegt Deutschland im Mittelfeld
  • Unter den 50 Staaten gibt es die insgesamt kostengünstigsten Arzneimittel in Thailand und Kenia.

 

Wer sich über kurz über die Preisbildung auf dem Arzneimittelmarkt informieren will: Das Bundesgesundheitsministerium hat im Februar 2019 eine Seite mit dem Titel „Wie Arzneimittelpreise entstehen und wie man sie senken kann“ freigeschaltet https://www.bundesgesundheitsministerium.de/arzneimittelpreise.html#c2692

Aus meiner Sicht noch wesentlich informativer ist ein frei verfügbarer Text der Stiftung Warentest vom 2.12.2019 mit dem Titel „Was Arzneimittel kosten und was Krankenkassen zahlenhttps://www.test.de/medikamente/Medikamente-im-Test-5418254-5418291/

Die neueste Festbetragsliste des DIMDI mit Datum 15.12.2019 finden Sie unter https://www.dimdi.de/dynamic/de/arzneimittel/festbetraege-und-zuzahlungen/arzneimittel-festbetraege/

 

Kurzmeldungen

 

2       Immer mehr Patienten konsultieren das Internet, bevor sie zum Arzt gehen. Im Netz stehen aber viele bestenfalls unsinnige, schlimmstenfalls schädliche Seiten neben wenigen guten. Die guten auszuwählen, erfordert u.a. EDV-Kenntnisse (z.B. über die Funktion von Suchmaschinen und deren Fallstricke), Erfahrung und ein gerüttelt Maß an gesundem Menschenverstand.

Hierzulande scheint wenig bekannt zu sein, dass unsere holländischen Kollegen von der NHG (Nederlands Huisartsen Genootschap) ein m.E. ausgezeichnetes Informationsportal für Patienten geschaffen haben, das unter https://www.thuisarts.nl/ eingesehen werden kann. Es ist die mit Abstand populärste Webseite für Holländer, die vor einem Arztbesuch (gelegentlich auch anstelle…) medizinischen Rat suchen und wird auch von 99% aller niederländischen Hausärzte zur Patientenberatung genutzt. Auch eine Verbindung zum Wartezimmer-TV ist möglich.

Hier ein kleiner Ausschnitt von der Startseite (wer Übersetzungshilfe braucht: Die ersten fünf Begriffe unter „Ratschläge für einen gesunden Winter“ lauten Husten, Halsschmerzen, Ohrenschmerzen, Grippe, das kranke Kind).

 

3    Mit meist großem Gewinn lese ich immer wieder die oft erschütternden Erlebnisse von Kolleginnen und Kollegen, die selbst zu Patienten werden.

Jüngstes Beispiel ist der Bericht eines 62-jährigen Neurologen, der einen Schlaganfall erlitt. Auf dem Weg zum Zug spät in der Nacht verspürte der Mann plötzlich einen rechtsseitigen Kopfschmerz, gepaart mit gering ausgeprägter motorischer und sensorischer Halbseitenschwäche links. Trotz der eindeutigen Symptomatik ging er „instinktiv“ nach Hause. Am nächsten Morgen fand er sich auf dem Boden liegend – auf einem Auge blind, halbseitig gelähmt und … voller Todesangst.

Den Bericht aus dem Lancet können Sie frei herunterladen unter https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140-6736(19)32642-X.pdf

NB: „Der Arzt, der der zum Patienten wird, hat eine Chance eine besserer Arzt zu werden“. Dieses Zitat stammt von dem 2003 verstorbenen amerikanischen Internisten Herbert S. Waxman, nachdem er eine akute Aortendissektion überlebt hatte. Ich habe vor 20 Jahren seine Schilderung als eines von sechs Beispielen beschrieben, in denen Kollegen ihre Erfahrungen als Patienten schildern (der Artikel aus der ZEFQ  ist angehängt).

 

4    Es gibt eine Todesart, die mehr Menschen das Leben kostet, als HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen: Es handelt sich um Luftverschmutzung in Innenräumen (HAP, household air pollution), die entsteht, wenn Haushalte veraltete Brennstoffe wie Feuerholz, Kohle, Ernteabfälle oder Kerosin zum Kochen oder Heizen verwenden. Jedes Jahr sterben daran 4,3 Millionen Menschen.

Beispielsweise verfügen in Sierra Leone weniger als 20% der Bevölkerung über Elektrizität, während noch über 90% mit Holzkohle und Feuerholz kochen.

Um bis 2030 einen universellen Zugang zu sauberen Kochmöglichkeiten zu gewährleisten (was nicht nur gesundheitliche, sondern auch enorme ökologische Folgen hätte), würden schätzungsweise 4,4 Milliarden Dollar jährlich benötigt. Eine neue Initiative versucht nun, weltweit allen Haushalten saubere Kochmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Der Fonds für Sauberes Kochen der Weltbank (Clean Cooking Fund, CCF), der im September beim UN-Klimaaktionsgipfel in New York gegründet wurde, soll 500 Millionen Dollar bereitstellen https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2019/09/23/uk-france-netherlands-support-world-bank-on-energy-storage-solar-power-and-clean-cooking

Lesen Sie den Bericht „Tod durch schmutziges Kochenhttps://www.project-syndicate.org/commentary/clean-cooking-solutions-household-air-pollution-africa-by-kandeh-k-yumkella-2019-11/german  von Kandeh K. Yumkella, dem ehemaligen stellvertretenden Generalsekretär der Vereinten Nationen für das Project Syndicate*

*Project Syndicate produces and delivers (without charge) original, high-quality commentaries from prominent political leaders, policymakers, scholars, business leaders, and civic activists from around the world to a global audience in 157 countries

 

5     Unter der Überschrift „Unsere Zeit ist knapp und wird immer weniger" brachte die Süddeutsche Zeitung (Miriam Hoffmeyer) Ende November einen längeren, lesenswerten Text über die Hausbesuchstätigkeit von Ärztinnen, Ärzten und Medizinischen Fachangestellten in Herzfeld, München, Straubing und Kassel. Einer der Schwerpunkte war die Übernahme von Besuchen durch MFA.

Neben der ansprechend aufgemachten Thematik war das Besondere an diesem Artikel, dass ausnahmslos alle vier zu Wort Kommenden … Mitglied der DEGAM sind.

https://www.sueddeutsche.de/karriere/aerzte-haubesuch-krank-versorgung-gesundheit-1.4681553

 

6     Ende Oktober ist die 3. Auflage der Nationalen VersorgungsLeitlinie „Chronische Herzinsuffizienz“ publiziert worden, bei der die DEGAM durch Christiane Muth, Erika Baum, Joachim Feßler und Martin Scherer vertreten war.

Die verschiedenen Module (z.B. Langfassung, Leitlinienreport, Empfehlungsübersicht) können unter https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-006.html heruntergeladen werden.

 

7     Benedikt Gasser, ein an der Universität Bern tätiger Kollege, hat eine retrospektive Analyse von 10.185 Bergwanderunfällen in den Schweizer Alpen aus den Jahren 2009 - 2018 publiziert (Register des Schweizer Alpenclubs).

Die nicht überraschende Quintessenz des Artikels lässt sich bereits dem Titel entnehmen: „Je älter der Bergwanderer, umso schwerer die Verletzung“.

Der Text aus der Schweizer Fortbildungszeitschrift Praxis ist angehängt.

 

8     In einem Benefit von Mitte November hatte ich u.a. auf das für die drohende Altersarmut mitverantwortliche Strickmuster der Pflegeversicherung hingewiesen: Deren Versicherungsleistungen bleiben bekanntlich gedeckelt, während die massiven Kostensteigerungen (inklusive der Investitionskosten der oft börsennotierten Heimbetreiber) die Pflegebedürftigen aus eigener Tasche bezahlen müssen. Wer das nicht kann, ist auf Sozialhilfe angewiesen.

Nachdem nun u.a. die SPD Pläne für eine Deckelung der Patientenzuzahlungen (statt wie bisher der Versicherungsleistungen) vorgelegt hatte, verdanken wir Bernd Meurer, dem Präsidenten des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste, den Spruch des Monats:

Statt den vielen mittelständischen Unternehmen (Unterstreichung stammt von mir, MMK) dankbar zu sein, dass sie in den letzten 20 Jahren dort investiert haben, wo die Länder sich nachhaltig verweigert haben, schärft die SPD wieder einmal ihr Profil, indem sie weiter nach links rückt und jetzt schon Unternehmensgewinne beschränken will. Wenn das umgesetzt wird, droht eine Unterversorgung pflegebedürftiger Menschen“.

 

Es darf schon vor der Bescherung gelacht werden.

 

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein schönes Weihnachtsfest und ein gesundes Neues Jahr.

Herzliche Grüße

Michael M. Kochen

------------------------------------------------

Bitte beachten Sie, dass eine Weitergabe der Benefits an Unbefugte gegen das deutsche, österreichische und schweizerische Copyright verstößt.

Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP

Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen

http://www.allgemeinmedizin.med.uni-goettingen.de

http://www.allgemeinmedizin.med.uni-goettingen.de/de/media/contact/Kochen_CV_5-18.pdf

Lehrbereich Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg

http://www.uniklinik-freiburg.de/studium/studieren-in-freiburg/lehrbereich-allgemeinmedizin.html

Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

http://www.akdae.de/Kommission/Organisation/Mitglieder/OM/Kochen.html

Zurück

Um diese Inhalte einsehen zu können, müssen Sie angemeldet sein.

Hier geht es zur Anmeldung